Tod ohne Stachel

Abschiedszeremonien für Heiner Müller  ■ Von Gabriele Goettle

Matinee

„14. 1. 1996 um 11.30 Uhr. Akademie der Künste: Volker Braun, Stephan Hermlin, Marianne Hoppe, Walter Jens, Daniel Libeskind, Hans Mayer u. a. erinnern an Heiner Müller“. So stand es in der Zeitung.

Viel zu früh kommen wir an der U-Bahn-Station Hansaplatz an. Außer uns steigt niemand aus. Ein eisiger Wind fegt in die Ausgänge hinein und über das Areal zwischen den geschlossenen Geschäften. Die farbigen Reviermarkierungen der männlichen Jugend, hastig hingesprüht, ziehen sich über Wände, Betonpfeiler und Werbeflächen. Ausgespart wurden die Schaufensterscheiben der Drogerie von Bubi Scholz, dem ehemaligen Boxer, der seine Frau erschoß. Mit dem Gewehr, durch die geschlossene Toilettentür hindurch.

Die Straßen sind an diesem grauen Sonntagvormittag menschenleer. Unter der S-BahnBrücke jedoch treffen wir auf eine ältere, heruntergekommene Frau. Sie geht mit abwesendem Gesichtsausdruck auf und ab, bläst in ihre Hände, reibt sie aneinander. Den dünnen Mantel, die hellblauen Sommerhosen und die schon vor Jahren aus der Mode gekommenen Moonboots hat man ihr vermutlich in der Altkleiderkammer des Sozialamtes gegeben. In einer Nische, zwischen den schweren Stützmauern der Brücke, ist mit dünnen Wolldecken und Lumpen ein klammes Lager auf die feuchten Steine gebreitet. Wir geben der Bewohnerin dieser dämmrigen Gruft unaufgefordert unseren Schein. Nach kurzem Mißtrauen versenkt sie ihn in ihrer geballten Faust tief in die Manteltasche und geht, einen Dank murmelnd, Richtung Bahnhof davon. Heiner Müller, einmal gefragt, ob er einem Bettler Geld geben würde, soll geantwortet haben: „Nein, ich stecke mir eine extra dicke Zigarre an, bestelle mir einen besonders teuren Whisky und führe ihm vor, wie gut es den Reichen geht. Das wird seinen Zorn wecken.“ Aber wer hält sich schon an seine Prinzipien? Weder der Arme noch der Reiche. Beschwingt begeben wir uns zur Akademie.

Die Häuser des Hansaviertels machen einen tristen und heruntergewirtschafteten Eindruck. Ende der fünfziger Jahre als Mustersiedlung einer internationalen Bauausstellung erstellt mit der Absicht, hochkarätige Antwort auf den sozialistischen Wohnungsbau in Ostberlin zu geben, sehen sie heute selbst wie Überbleibsel der DDR aus. Auch die Akademie wirkt irgendwie verkümmert. Selbst die „Große Liegende“ von Moore scheint geschrumpft zu sein in den Jahren, sie hat aufgehört, souverän zu lagern, sieht viel eher aus wie eine Moribunde, die sich mit letzter Kraft und wunden Stümpfen auf ihren körnigen Sockel hinaufgeschleppt hat.

Im Innern der Akademie sind die Spuren der Zeit hemmungslos über Sesselgruppen, Betonwände und Holzverkleidungen hergefallen. Vom Vereinigungsreichtum ist nichts zu sehen. Selbst der Büchertisch ist mager mit Katalogen belegt, im Verhältnis zu den früheren Jahren. Über allem scheint eine schwere Müdigkeit und Stagnation zu lasten, ein ewiges Fortfristen des einmal aufgenommenen Betriebes. Dieser Eindruck verliert sich natürlich zusehends mit dem Erscheinen des Publikums, das schwatzend herumgeht, sich um keine Absperrungen kümmert und die geschlossene Cafeteria durch Platznehmen zu vorzeitigem Öffnen zwingt. Der Verstorbene scheint eine belebende Wirkung zu haben, vielleicht weil sein Los ungleich trostloser ist, als das von jedem anderen hier.

Auch der Einlasser ist guter Dinge. Man hat den älteren Mann vor die Saaltüren des Studios postiert mit dem Auftrag, außer Fernseh- und Presseleuten niemanden einzulassen. Die Art, wie er seine Aufgabe erfüllt, verdient Beachtung.

„Schaffazig heiße ich, wie das Schaffen“, erklärt er lächelnd, „ich mach' das schon lange, mal Garderobe, mal dies, mal das. Aber hauptsächlich bin ich sonst an der HdK, der Hochschule der Künste, wissen Sie, Hardenbergstraße ... na, bei dieser Arbeit erlebt man was ... zum Beispiel unlängst, das Ding da mit dem Festakt ... Berlin– Moskau, also die große Ausstellung, die grade war, da wurden ja immer auch Filme gezeigt, und die mußten se in Cottbus abholen ... der eine letztens ist steckengeblieben im Stau, da war nichts zu machen, und die Leute haben gewartet und gewartet und gefragt und gefragt und haben am Ende dann gar keinen Film gesehen ...“

Ständig treten Damen und Herren, meist gut betucht, meist mittleren Alters, meist ungeduldig Einlaß fordernd, zu den Flügeltüren hin.

Herr Sch.: Leider, Sie müssen noch warten, ich darf keinen einlassen. (Das Ehepaar geht zur Sitzecke.)

Dame: Ich habe reserviert.

Sch.: Heute gibt es keine Karten, der Einlaß ist frei. Aber Sie müssen noch ein wenig warten, so bis 11 Uhr mindestens. (Dame geht unwirsch.)

Mann: Wann ist Einlaß?

Sch.: So kurz nach elf.

Fotograf (darf hinein): Ganz hübscher Andrang heute, was?

Sch.: Jaaa, ich wundere mich selbst. Ist ohne Karten heute, ohne alles ... was ist denn eigentlich heute? Man hat mich gar nicht ... ich bin nicht auf dem laufenden...

Fotograf: Na Müller!

Sch.: Müller kommt? Kenn' ich nicht ... Ach, na klar doch, Müller is heute, der Müller, der gestorben ist, von drüben vom Theater!

Fotograf: Ja, der.

Sch.: Na denn!

Junger Mann: Ist schon offen?

Sch.: Einlaß frühestens elf Uhr dreißig.

Zwei ältere Damen mit Hüten: Wir haben gestern angerufen, und man hat uns versichert, daß man eineinhalb Stunden vor Beginn ohne Reservierung eingelassen wird.

Sch.: Tut mir leid, aber ich darf vor 11.30 niemanden reinlassen, so hat man's mir aufgetragen.

Damen: Aber man hat uns doch ausdrücklich gesagt...

Sch.: Ich kann nichts machen, wirklich, gehn Sie doch in der Zeit einen Kaffee trinken, dort können Sie bequem sitzen.

Damen: Lieber nicht, wir bleiben hier stehen, wer weiß, ob später dann noch Platz ist.

Sch.: Platz ist genug, mehr als genug, mehr als 600 Sitzplätze.

Damen: Wir warten lieber.

(Hinter den Damen bildet sich sofort eine Schlange.)

Dame im Pelzmantel: Braucht man Karten?

Sch. (assistiert von den beiden älteren Damen): Nein, keine Karten. Einlaß ist aber erst ab halb zwölf.

Dame: Aber das sind ja noch geschlagene...

Sch.: Ich kann's nicht ändern, leider, meine Dame.

Die beiden alten Damen: Sie haben es auch nicht leicht, was?

Sch.: Nee, leicht ist das nicht, wenn man immer der Schuldenbock ist.

Damen: Na ja, Müller stirbt ja nicht alle Tage...

Sch.: Gottlob!

Damen: Die kommen hier alle nur wegen Müller...

Andere Dame: Und wer nicht wegen Müller kommt, der kommt wegen Mayer!

Dritte Dame: Ich komme eigentlich wegen der Hoppe...

Junger Mann ruft dazwischen: Wir haben gehört, der Hans Mayer soll gar nicht kommen, stimmt das?

Sch.: Ich weiß von nichts, ich habe nur den Auftrag, vor halb zwölf hier keinen einzulassen!

Dame (die wegen Mayer kam): Aber es stand doch so in der Zeitung!

Sch.: Vielleicht ist wer krank geworden.

Junger Mann (einen Zettel hochhaltend): Das habe ich dort vom Tischchen, es steht sein Name gar nicht mehr drauf! Es kommen nur Frank Beyer, Volker Braun, Stephan Hermlin, Marianne Hoppe...

Dame (die wegen Frau Hoppe kam): Na bitte!

Junger Mann: ... Walter Jens, Thomas Langhoff und Ivan Nagel...

Gutgekleideter alter Herr mit fester Stimme: Ich habe vorbestellt!

Sch.: Heute ist kein Kartenverkauf, der Eintritt ist frei.

Die beiden Damen (schadenfroh): Wir hatten auch angerufen und mußten uns hier anstellen!

Sch.: Karten gibt's nicht heute, keine einzige!

Herr: Also man hat mir das aber anders ... wer ist denn der letzte hier?

Damen: Ganz hinten hört die Schlange auf!

Bärtiger (sächselnd): Ist das umsonst heute?

Sch.: Jawohl, vollkommen umsonst!

Bärtiger: Und wann ist der Einlaß?

Sch.: Also wie ich jetzt höre, erst so gegen zwölf.

Mann mit Goldrandbrille: Das ist doch unmöglich hier! Statt die Leute einzulassen, dürfen sich erst alle die Beine in den Bauch stehen.

Damen: Er kann ja auch nichts dafür, er führt nur seine Anordnungen aus!

Sch.: Da müssen Sie sich im Büro beschweren.

Goldrandbrillenträger: Die Schlange steht ja schon bis zum Eingang vorne...

Alter Herr: Ich stelle mich dort nicht an, ich bin gehbehindert!

Alte Damen: Viele hier sind gehbehindert und müssen sich trotzdem anstellen...

Dame (Typ ältere Buchhändlerin, Mantel über dem Arm): Ich möchte nur eben den Platz belegen. (Verschwindet durch den Eingang.)

Damen: Unverschämtheit!

Herr: Weshalb haben Sie sie denn nicht aufgehalten?

Sch. (achselzuckend): Jeder will der erste sein.

Ehepaar: Das kann doch alles nicht wahr sein, wir stehen jetzt seit zwei Stunden hier Schlange...

Mit dem Ruf „Vorsicht bitte!“ bahnt sich ein Filmteam seinen Weg durch die Menge, postiert sich in der offenen Tür und taucht die Wartenden in grelles Scheinwerferlicht. Beim Hineingehen höre ich den Regisseur zum Kameramann sagen: „Ich lasse die Türen abschließeh, bis auf diese, damit mir der Menschenansturm nicht durcheinander läuft, und dann nimmst du die Traube von hier, ganz normal!“ (Lacht irr auf.)

Im Saal werden Tonproben gemacht. Auf die Bühnenleinwand ist meterhoch ein Foto von Heiner Müller projiziert: Mannhaft verschlossenes Gesicht mit Zigarre. Walter Jens wird sich am Ende der

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Fortsetzung

Veranstaltung davor verbeugen – Ehrenwort! Vorerst aber muß der Schatten eines Scheinwerfers von Müllers Stirn entfernt werden. Zum ohrenbetäubenden Lärm der übersteuerten Tonprobe tragen zwei Arbeiter eine riesige aufgeklappte Leiter vor die Bühne. Flink steigt einer hinauf. Die Leiter, ihre Sprossen und der Hinaufkletternde zeichnen sich als Schattenspiel auf der Leinwand ab. Der Arbeiter quert den rechten Mundwinkel, erklimmt die Nase, streift den Steg der Brille und erreicht zwischen dem verhängten Blick hindurchsteigend die bleiche, wuchtige Stirn des Dramatikers. Bald ist der störende Scheinwerfer abmontiert, die Leiter weggeschafft, der Ton geregelt, und nun endlich darf das Publikum eintreten. Schnell füllt sich der Saal, viele müssen stehen, viele kommen gar nicht erst herein. Man hat wegen Überfüllung den Haupteingang der Akademie geschlossen. Draußen warten die Zuspätgekommenen beharrlich in der Hoffnung, doch noch eingelassen zu werden. Hätte die Obdachlose in der Maske des Toten hier an der Tür stehend die Hand aufgehalten, es wären einige tausend Mark zusammengekommen.

Während Walter Jens das Publikum begrüßt und die Redner vorstellt, wobei er vergißt, Stephan Hermlin zu nennen, findet draußen vor der Stadt, im ehemaligen Wohngebiet des Verstorbenen, eine andere Veranstaltung statt. Tausende haben sich auf dem Friedhof Friedrichsfelde an der „Gedenkstätte der Sozialisten“ versammelt, um der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu gedenken. Es soll viele rote Nelken, Griller, Anstecknadeln, Parteiprominenz und zuletzt sogar einen Polizeieinsatz gegeben haben, hörte ich später.

Trauerfeier

Das Theater mit dem merkwürdigen schornsteinartigen Dachaufbau trägt eine schwarze Binde mit der Aufschrift: „HEINER MÜLLER 1929–1995“. Brecht sitzt teilnahmslos mit seinen drei Prinzipien vor seinem Berliner Ensemble und hat auf dem Schritt eine kleine Schneedecke liegen. Um die Skulptur herum haben Kamerateams, Fotografen, Schaulustige und Polizisten Stellung bezogen. Im Vestibül herrscht dichtes Gedränge. Monumente in Kaschmir stehen neben betont schlicht gekleideten Trauergästen. Eine Aufzählung all dieser prominenten Persönlichkeiten würde hier zuviel Platz verschlingen. Andersherum ist es einfacher: Harald Juhnke, Christa Wolf, Udo Lindenberg und Ernst Jünger sind nicht gekommen. Vor ein, zwei Wochen sah es hier noch anders aus, mehr so wie damals in der deutschen Botschaft in Prag. Überall saß und stand man, um dem Müllerschen Werk zu lauschen. Die vielgeschmähte achttägige Dauerlesung war ein unwiederholbarer Erfolg, gratis und allen ein echter Trost; wofür auch immer.

Hier oben auf der Galerie ist es noch vollkommen leer. Auf der hell ausgeleuchteten und mit weißen Tüchern belegten Bühne hängt ein blutrotes Rechteck. Schräg davor ein schwarzer Flügel, auf dem Daniel Barenboim (eingedenk der Müllerschen Tristan-Inszenierung in Bayreuth) etwas zu Gehör bringen wird aus der letzten Klaviersonate von Schubert. Über dem fast vollbesetzten Parkett schwebt ein bombastischer Kronleuchter, leicht lädiert, mit altersblinden Glaskugeln. Während hoch hoben, zu beiden Seiten der Stirnwand, über all dem roten Samt, den gerafften Bordüren, den Karyatiden und vergoldeten Stuckornamenten, je eine weibliche Sphinx, die rätselhafte Vorgänge studiert, erklimmt Alexander Kluge (unter Umgehung des Treppchens) die Bühne. Merkwürdig unvollständig ist seine Begrüßung: „Liebe Brigitte, liebe Freunde von Heiner Müller.“ Andere, wie Bruder und Tochter Regine, ob nun vergessen oder ignoriert, können sich eine von beiden Kränkungen aussuchen. Bereits nach den ersten Sätzen fällt der Trauerredner in seine Sprechgewohnheiten, begleitet jede Aussage mit einem pädagogisch nachdrücklichen, aber hingehauchten „Ja“. Und auch, was er dem Toten nachruft, würde den sehr amüsiert haben. Das Müller-Zitat von der „Schwerkraft der Toten“ klingt noch bescheiden. Doch dann geht es Schlag auf Schlag, ein Monument wird aus dem Granit gehauen: Vom „Mammut-Stück Hamlet“ ist die Rede, vom Mann, der „wie ein Besessener“ gearbeitet habe, ein „Riesenwerk an Texten“ geschaffen habe, zuletzt „Mommsenblock“ (so nennt er „Mommsens Block“), Müller sei ein „sächsischer Römer“ gewesen und „gleichzeitig ein preußischer Mensch“, der „hämmerte auf seine Schreibmaschine aus Eisen“ ein Werk, „ein radikales, sehr avantgardistisches Werk“, und – Kluge ist vollkommen gnadenlos – „er ist das Gegenteil eines Opportunisten!“

Das hat er nun doch nicht verdient, hingestellt zu werden, als ein Kerl aus einem Guß. Grade darauf hat er schließlich immer sehr großen Wert gelegt, seine Risse, Widersprüche, Feigheiten, Irrtümer und verräterischen Neigungen zu bekräftigen, statt, wie es der Brauch ist, ihre Existenz zu leugnen. Der Gepriesene liegt derweil mit versiegelten Lippen in der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofes, nachdem man ihn 17 Tage im Kühlfach einlagerte, weil die in- und ausländische Prominenz zahllose Terminverpflichtungen hat. Ist denn das nun eine Ehre, wenn der Verderblichste von allen die geringste Rücksichtnahme erfährt? Aber es war wohl sein tragisches Geschick, daß dann, wenn das Ziel einer langgehegten Sehnsucht endlich erreicht war, das Objekt der Begierde in den letzten Zügen lag: Akademie und Berliner Ensemble.

Nun, nachdem Stephan Hermlin, Bob Wilson und Daniel Barenboim liebevoll ihre Wertschätzung zum Ausdruck gebracht haben, ist die Trauerfeier beendet, und man bricht zum Friedhof auf. Unten stoße ich mit dem Dramatiker Rolf Hochhuth zusammen. Er drängt in die Gegenrichtung, zum Hinterausgang, denn vorn steht die versammelte Presse. Für einen Holzapfel und ein Holzei will er das alles hier haben, das ganze Ensemble, und sorgt durch unerschrockene Attacken für Hyperventilation bei der verstörten Belegschaft.

Beisetzung

Bis zum Friedhof ist nur ein kurzer Fußweg durch Friedrichstraße und Chausseestraße zurückzulegen. Hier haben Gründerzeit, zwei Weltkriege, DDR-Sozialismus und „Aufschwung Ost“ ein aufregendes Ensemble aus Prachtbauten, Ruinen, Baustellen und alten bürgerlichen Mietshäusern geschaffen. Viele der Geschäfte stehen leer, einige scheinen gerade erst geschlossen worden zu sein, andere wirken, als stünden sie seit 70 Jahren leer. Eines davon liegt hinter seiner trüben Schaufensterscheibe, mit maßgeschneiderten Regalen bis zur Decke, Schubladenschränken, Vitrinen, Ladentisch und Regulator über der Tür, die nach hinten, in die ehemalige Geschäftswohnung führt.

Der Friedhof wurde auf Bitten des Berliner Ensembles am Vormittag geschlossen gehalten. An der eisernen Pforte steht bereits eine Gruppe von Wartenden, und auch die Filmkameras und Fotoapparate sind in Aktion. Und nun sehen wir erst, was der Grund für die aufgeregte Presse ist. Das Tor wird bewacht von einem imposanten rothaarigen Erzengel, einer Frau aus dem BE, sie bestimmt, wer eintreten darf und wer nicht. Nicht eintreten darf der Dramatiker Hochhuth. Er steht ganz vorne, unmittelbar am Tor, Aug in Aug mit der unbarmherzigen Pförtnerin, preßt er ein Trauergesteck aus weißen Lilien und Zitterkraut an seine Brust. Er macht ein Gesicht wie ein zu Unrecht in den Schrank gestellter Bub. Wir hingegen erfahren Gnade vor den Augen der Wächterin und dürfen hineinschlüpfen.

Der kleine Friedhof ist von protestantischer Schlichtheit, klassizistisch bis sachlich die Grabmale. Hier liegen Fichte, Hegel, Schinkel, H. Mann, Brecht und Weigel, die Brüder Herzfelde, Dessau, Eisler, Becher usw., aber auch gewöhnliche Verstorbene aller Stände. Vor der Friedhofskapelle, deren Tür sich nun öffnet, stehen die Leidtragenden und Trauergäste frierend und meist schweigend. Dann wird der Sarg herausgetragen. Er ist nicht sargförmig, sondern wie eine Kiste gezimmert, aus hellem, zart gemasertem Holz. Statt der üblichen Griffe sind vier Schlaufen aus kräftigem Schiffstau angebracht. Drinnen angeblich liegt er, Heiner Müller, als toter Körper mit den ordnungswidrigen Wucherungen. Er schwankt leicht dahin auf den Schulterknochen der Sargträger, schwebt am Lutherstandbild von Schadow vorbei und wird nach links hinüber geschwenkt, in die Birkenallee hinein, wo sein Grab ist. Der Trauerzug folgt fast lautlos, nur das stetige Schaben und Knirschen der Schritte mischt sich in die vormittägliche Geräuschkulisse aus Kindergeschrei von einem Schulhof, Fabrikgebrumme, Vogelzwitschern und dem Aufheulen eines Martinshorns.

Bevor der hintere Teil des Trauerzuges zum Stehen kommt, ist der Sarg bereits in die Grube hinuntergelassen, verklingen die letzten Zeilen eines Gedichtes von Benn: „...wenn die Mauern niederbrechen, werden noch die Trümmer sprechen von dem großen Abendland.“ Aus dem alten Leichenschauhaus der Charité lehnt das weißbekittelte Personal der Kriminalpathologie aus dem Fenster und hat ernste Gesichter. Dabei bekommen sie tagtäglich doch ganz anderes zu sehen. Nun, nachdem sich einen kleinen Moment niemand rührte, tritt die letzte Frau Heiner Müllers, Brigitte Mayer, ans offene Grab und ist sehr zerrüttet. Sie nestelt irgend etwas aus einer Hülle und streut es ins Grab – erst dieses, dann den Sand. Über das unausweichlich Endgültige und Trostlose dieses Abschieds bricht sie in Tränen aus und wird behutsam beiseite geführt. Pressefotografen und Fernsehleute hat man anscheinend noch nicht eingelassen – ich sehe nur einen Mann mit einer Videokamera filmen, und der tut es, so vermute ich einfach mal, im Auftrag von Kluge.

Es treten jetzt in der üblichen Reihenfolge nacheinander die Trauergäste ans Grab. Nur bei den Prominenten herrscht kurzfristige Unsicherheit über die hier angebrachte Rangordnung, dann aber treten auch sie ohne weitere Scheu vor und nutzen die Gelegenheit für kleinere oder größere Selbstinszenierungen. Jemand fällt auf die Knie, andere stehen übertrieben lang und blicken umwölkt in die Grube, wieder andere, meist Männer, stellen sich mit den Zehenspitzen ganz nah an den Rand und nehmen respektvoll Haltung an. Es sieht aber nicht so sehr wie eine Ehrbezeugung aus, sondern wirkt, als stünden sie, starr vor Tiefenangst, hoch oben auf einem Sprungbrett. Merkwürdig sind auch die verschiedenen Arten, Erde ins Grab zu werfen. Manche tun so, als würden sie einen Topf Suppe salzen, sie nehmen die Erde, zerreiben sie zwischen den Fingern und lassen sie hinabrieseln. Andere säen wie routinierte Bauern, aus dem Handgelenk heraus, mit einer schleudernden Bewegung, in flachen Bögen. Wer jedes Pathos scheut, nimmt ein Schäufelchen voll Erde und schüttet sie ohne besonderen Schwung ins Grab hinein. Die Christen, vermutlich, nehmen reichlich und lassen mit einer pendelnden Bewegung des Armes dreimal eine Portion Erde fahren aus ihrer geschlossenen Faust. Eine Frau in mittleren Jahren nimmt mit beiden Händen soviel Erde, wie sie zwischen den Handflächen halten kann und läßt sie ruckartig fallen, das macht sie dreimal. Manche treten wie beim Auftritt an die Grube, bemüht, einen resignierten, ja zornigen Eindruck zu erwecken. Sie schleudern ihre Erde ins Grab mit übertrieben wegwerfender Geste. Es wurden neben roten Rosen auch ein bis zwei Nelken, diverse Zigarren und ein paar Flaschen Whiskey ins Grab geworfen. Polternd schlugen sie auf, was ganz ungehörig klang. Aber das war auch die einzige Unbotmäßigkeit, das hatte ihn sicher enttäuscht. Allerdings warf Susan Sontag, die ich ohne Blumen habe kommen sehen, ein Gesteck ins Grab, das aufs Haar dem von Herrn Hochhuth glich (der, wie ich später hörte, unter Hinterlassung seines Sträußchens das Weite gesucht hatte). Dieses hätte den Verblichenen wohl wieder erfreut.

Da liegt er nun, zu seinen Füßen das Grab von Schinkel, zu seinen Häupten liegt ein Gastwirt namens Richard Weber. Mit der zweiten Welle von Trauergästen kommen auch die Fernsehleute und Fotografen. Ein Team in Begleitung von Schlöndorf baut hektisch auf einer bereitstehenden Plattform auf, aber die intimeren Momente sind unwiederbringlich vorbei. Dafür scheinen jetzt viel mehr auffallende Sonderlinge aufzutauchen. Ein untersetzter Mann mit grauem Schnauz- und Spitzbart drängt sich durch die Fotografengruppe, die vom Grab des Gastwirtes aus durch die schüttere Hecke zoomt. Er trägt zwei pralle Stofftaschen mit dem Aufdruck „Deutschlandradio“ und ist mit einem etwas zu engen, teilweise zerrissenen schwarzen Anzug bekleidet. Bald sehe ich ihn stehen, eine dick gefüllte Schreibmappe auf dem Arm, in die er ununterbrochen hineinschreibt. Ein anderer Mann, Mitte vierzig vielleicht, klein, bärtig, mit Brille und Halbglatze, trägt ein Schild. Er hält es hoch über seinen Kopf. Was draufsteht, kann ich nicht lesen von hier aus. Einige der Trauergäste sind stark betrunken, bewegen sich aber mit schlafwandlerischer Sicherheit zwischen den Grabsteinen hindurch. Vereinzelt taucht nun mal ein etwas punkartig aufgemachtes Pärchen auf.

Wir gehen beim Rückweg zur Friedhofsverwaltung und treffen dort auf die zuständige Pfarrerin, Frau Fritz. Auf die Frage, weshalb man eigentlich dem Architekten Henselmann – der, wenn man so will, der Schinkel der DDR war – die Bestattung auf diesem Friedhof versagt habe mit der Begründung, es sei geschlossen, erklärt sie:

„Der Friedhof ist ein Gemeindefriedhof und für die Gemeindemitglieder da. Wenn ich alle berühmten Leute, oder alle, die der Meinung sind, daß sie berühmt sind, hier hätte bestatten lassen, dann wäre dieser Friedhof schon vor zwölf Jahren übervoll gewesen. Unser Friedhof ist nun mal sehr klein. Ja, und was die Beerdigung Müller betrifft, der ja auch kein Gemeindemitglied war, so ist die Erklärung sehr einfach: Die Akademie der Künste hat einige Plätze hier gehabt, und sie konnte entscheiden, wer die in Anspruch nehmen darf.“

Vor dem Friedhof stehen immer noch Wartende. Im Gedränge sehe ich den Mann mit dem Schild wieder. Er montiert gerade die Stange ab, um alles in Papier einzwickeln. In sauber gemalten Buchstaben steht zu lesen: „Revolutionäres Denken macht Hoffnung.“ Nebenan ist solcher Hoffnung ein Denkmal gesetzt: Auf einer karg begrünten Freifläche zwischen Straße und Friedhofsmauer, Brecht-Haus und leerem Kaufhof, steht in Stein gemeißelt: „SPARTAKUS / das heißt Feuer und Geist / das heißt Seele und Herz / das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats. Karl Liebknecht.“ Hier stand das Haus, in dem am 1. Januar 1916 der Spartakusbund gegründet wurde.

Im Durchgang des Brecht-Hauses unten wird kostenlos heißer Tee in Bechern verteilt. Davon wird reichlich Gebrauch gemacht, von den Wartenden und von denen, die frierend aus dem Friedhof heraustreten. Und immer noch kommen Trauergäste. Die Straße ist so gut wie gesperrt von der Polizei, obgleich die höheren Politiker, wie Weizsäcker, Diepgen, Lafontaine, längst in ihren Dienstlimousinen weggefahren wurden. Ein paar Schritte weiter wird der Blumenshop Meya reichlich frequentiert. In der Auslage steht: „Blumen schenken, die Visitenkarte Deines Herzens.“ Im modernen, immer noch wohlgefüllten Laden steht ein Paar um die fünfzig hinter dem Verkaufstisch und fragt nach den Wünschen. Meine Fragen beantworten sie ebenso freundlich:

Mann (leicht sächselnd): Wir sind zufrieden. Sogar noch ne zweite Floristin hatten wir mit da. Das Grab haben wir ja auch mit aus ... mit ausgelegt, mit dem Grün, das da drin ist. Die meisten ham ja Rosen genommen...

G.: Das fiel mir auf, rote Rosen. Nelken sah ich so gut wie keine.

Mann: Ist richtig, ja, darauf waren wir ja vorbereitet! Wissense, Heiner Müller war ja kein Kommunist ...

Frau: Nein! Heiner Müller war ein Theatermensch, und die Theaterblume, das ist nun mal die rote Rose.

Mann: Der war zu DDR-Zeiten nicht sehr beliebt, wenn man bedenkt...

Frau: Der hatte viel Ärger, ja...

Mann: Ich will's mal so bezeichnen – wenn Sie aus dem ehemaligen Westdeutschland kommen, dann können Sie das nicht so wissen –, es gab bei uns zu DDR-Zeiten Linke, sag ich mal ... die waren ein bissel zu forsch, nicht gerade linksradikal, das nich, aber die waren eben nicht auf Linie. Wenn man die irgendwie verschwinden lassen konnte von der Bildfläche, dann hat man das gemacht. Weil die ja ... na ja .. gestört haben, und Heiner Müller eben auch, ne ganze Weile. Nachher war er dann weltbekannt, kann man sagen ... oder weltberühmt, könnte man sogar sagen. Da konnte er zuletzt ne Lippe riskieren. Da hat er schon mal gesagt, „was Honecker macht, ist Scheiße“, oder so was in der Art. Vielleicht sogar ihm persönlich ins Gesicht...

Frau: Das denke ich mir auch so ... aber man weiß es ja nicht.

Mann: Er war jedenfalls eine Kapazität, genau wie der Professor Havemann, und deshalb haben sie ihn in Ruhe gelassen ... so war das ... ja ... und was die Blumen betrifft, die rote Rose ist die Theaterrose. Im allgemeinen wird bei Beerdigungen ja nur die weiße Rose genommen, oder die Lilie, das sind so ein bissl die Trauerblumen. Aber heute werden ja alle Blumen verwendet für den Trauerfall. Herkömmlich jedenfalls ist die weiße Rose. Wir waren richtig vorbereitet.

Wie betäubt schlendern wir zum Bahnhof Friedrichstraße. Auf der Weidendammer Brücke schaun wir ein Weilchen auf die Spree hinunter. Kräftige weiße Eisschollen treiben auf dem schwarzgrauen Wasser dahin. Dazwischen eine Gruppe von Enten, die gegen die Strömung schwimmen und den Eisschollen geschickt ausweichen.

VOM GLÜCK DES GEBENS

„Höchstes Glück ist doch, zu spenden

Denen, die es schwerer haben

Und beschwingt, mit frohen Händen

Auszustreun die schönen Gaben.

Schöner ist doch keine Rose

Als das Antlitz des Beschenkten

Wenn gefüllet sich, o große

Freude, seine Hände senken.

Nichts macht doch so gänzlich heiter

Als zu helfen allen, allen!

Geb ich, was ich hab, nicht weiter

Kann es mir doch nicht gefallen.

(spätes Gedicht von B. Brecht)