Spielwiese und Techniktempel

Weltgrößte Wissenschaftsausstellung präsentiert die Triumphe der Technik  ■ Aus Paris Antonia Rötger

Die Cité des Sciences et de l'Industrie im Norden von Paris ist die größte Wissenschaftsausstellung der Welt. Die malerischen Laboratorien aus der Zeit der Alchimie sucht man hier jedoch vergebens, ebenso die klassischen Versuche zur Elektrizitätslehre. Nichts erinnert in dem Techniktempel an die Schule. Das Thema ist die Gegenwart. Auf drei Etagen und einer Gesamtfläche von 30.000 Quadratmetern finden fast alle Wissensbereiche einen Platz, vom menschlichen Sozialverhalten bis zur Atomenergie und zur Raumfahrt. Der graue Stahlkoloß des Architekten Adrien Fainsilber, der entfernt an das Centre Pompidou erinnert, steht auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs La Villette. Im Hintergrund glitzert die Géode, eine Kugel aus Tausenden von blankpolierten Edelstahldreiecken, die ein phantastisches Kino umhüllt.

Die Wissenschaftsstadt ist eines der großen Projekte von François Mitterrand, sie feiert im März ihr zehnjähriges Jubiläum. Etwa tausend Mitarbeiter sind in der Cité des Sciences beschäftigt, das jährliche Budget liegt bei 700 Millionen Francs. Zusätzlich zu den Ausstellungen gibt es eine Mediathek und eine Berufsberatung, beide ebenfalls am Wochenende geöffnet.

„Wir wollen vor allem das Interesse an Wissenschaft wecken, wir möchten das aber auch auf eine unterhaltsame Weise tun. Also nicht nur belehren“, erklärt Marc Papon, der Pressesprecher. Viel Spaß machen zum Beispiel die interaktiven Videos in der Abteilung Verhalten: Ein Ehekrach ist ausgebrochen, die Gäste kommen aber gleich, soll Sylvie jetzt eine humorvolle Bemerkung machen oder noch eins draufsetzen? Der Besucher wählt, und der Abend wird gerettet oder endet in der Katastrophe. Eine Soziologin, ebenfalls im Video, kommentiert den Verlauf, bevor sie selbst mit ihrem Freund zu zanken beginnt. Videos in der Abteilung Akustik zeigen die Stimmbänder eines Sängers, der sich ein Glasfaserkabel in den Schlund steckt, während er das hohe a singt. Sogar Röntgenaufnahmen eines sprechenden Mannes sind zu sehen. Über Schallparabeln und die Klangblase flüstern sich Besucher, meterweit entfernt, schnell ausgedachten Unsinn zu.

Länger als drei Minuten dauert die Aufmerksamkeitsspanne nicht, diese Erkenntnis haben die Ausstellungsmacher verinnerlicht. Manches gerät da zur Reklame, beispielsweise die Ausstellung zum 50jährigen Bestehen der CEA, der staatlichen Atomenergieforschungsagentur. Der Besucher bekommt in drei Minuten auf fast alle Fragen eine Antwort. Hübsch gemacht und anschaulich. Ein taktiler Bildschirm bietet verschiedene Atome an, man wählt, und schon fliegen bunte Kugeln über die Scheibe, die Atomkerne spalten sich. Kleine Computersequenzen demonstrieren, wie sicher die französischen Atomkraftwerke sind. Eine ganze Stellwand ist den Atombombentestexplosionen im Moruroa-Atoll gewidmet. Darauf erfährt man, daß diese Tests die „Sicherheit der Atomwaffen“ verbessern. Keine Rede davon, daß auch eine Reihe französischer Experten die Versuche für unsinnig halten. Wenn wirklich beide Seiten bei kontroversen Themen zu Wort kämen, wäre das mit Sicherheit spannender als all die bunten Dreiminutenfilme.

In der Abteilung Ökologie findet die Videomanie ihren absoluten Höhepunkt: Eine kunstvolle Installation mit sechzig Videobildschirmen, kreisförmig angeordnet, soll die Ökologie des europäischen Mischwalds veranschaulichen. Es flimmert grün, ein Hase und ein Blatt erscheinen abwechselnd auf den acht Achsen und wandern zu den Bildschirmen im Mittelpunkt. Entweder, man stülpt sich fasziniert den Kopfhörer mit Geräuschen und Erklärungen über, oder geht sofort weiter, weil man das Chaos nicht verträgt. Bei der Größe der Anlage muß man sich ohnehin auf wenige Gebiete beschränken. Sonst droht das Kopfweh, das man auch vom Zappen kennt.

Einzigartig ist die Spiellandschaft für die Drei- bis Fünfjährigen, die Pädagogen, Wissenschaftler und Designer zusammen gestaltet haben: Sehen, hören, fühlen, nachmachen, um etwas Neues zu begreifen. Ein Bach schlängelt sich von einem Themenfeld zum nächsten, vom Tisch mit den stabilen Zerrspiegeln, vorbei an einer Reihe von Bildschirmen zum Drauffassen, bis zu den Wasserspielen, wo für die Kinder gelbe Regenumhänge hängen. Wie wächst aus einem Samenkorn ein Weizenhalm, und wie macht der Bäcker aus den Körnern das Baguette? Und was steckt in den Kästen mit den kleinen Öffnungen für Kinderhände? Das Erleben macht sichtlich Spaß. Durch ein rundes Fenster krabbelt eine Dreijährige mutig in das „Überraschungs-Labyrinth“. Alles ist auf Zwergengröße ausgerichtet. Das Kind läuft über einen weichen, wabbligen Gummiboden, dann über einen härteren Untergrund und kämpft sich durch den Wald aus lauter Wäscheleinen. Aber der Ausgang sieht versperrt aus. „Durchrollen mußt du da!“ ruft ihr die Mutter von außen zu, und tatsächlich wirft sich die Kleine in die beiden dicken, gelben Schaumstoffwalzen und rollt wie ein Auto aus der Waschanlage heraus.

Die größeren Kinder von 5 bis 12 haben einen eigenen Teil, mit mehr Vermittlung von Fakten, mehr interaktiven Computersequenzen, mehr Mechanik: Sie steuern Roboterarme, probieren ein Fernsehstudio aus und können die Wege der Ameisen in einem echten Ameisenhaufen beobachten, in eine der Plexiglasröhren kriechen, um das Innere zu sehen oder jede Menge Informationen per Knopfdruck auf einen Bildschirm holen. Einige Pariser Familien haben ein Jahresabonnement.

Mehr als 5.000 Besucher kommen täglich in die Cité des Sciences et de l'Industrie. Etwa ein Drittel des Besucher sind Touristen, doch die Wissenschaftsstadt ist darauf eingestellt: Die meisten Kommentare sind außer auf französisch auch in englisch, deutsch und italienisch zu lesen. Wer sich am Louvre und den anderen Berühmtheiten schon satt gesehen hat, findet in der Cité das moderne und optimistische Frankreich. Die Technik mit phantasievollen oder poetischen Installationen zu feiern gelingt den Franzosen einfach besser als uns.