Diesmal ein Unfall in der Giftküche von Hoechst

■ Entwichener Stoff ist krebserregend. 1.000 Tonnen jährlich in Deutschland

Frankfurt/Main (taz) – Die Pestizidküche der Hoechst AG steht in Frankfurt-Griesheim steht vorläufig still. Bis zum Samstag hatte die Hoechst-Tochter AgrEvo dort sogenannte Pflanzenschutzmittel für den Einsatz in der Bundesrepublik, aber auch für den Export hergestellt. Eines der wichtigeren Produkte aus der Giftküche war das Mittel Arelon mit dem Wirkstoff Isoproturon. Arelon wird in Frankfurt in großen Mengen hergestellt. In der Bundesrepublik kommen nach Greenpeace-Angaben jährlich rund 1.000 Tonnen Isoproturon zum Einsatz.

Samstag früh landete eine Tonne des Pestizids nicht auf Äckern der Landwirte, sondern verteilte sich als pulverförmiger Schnee über die benachbarten Stadtteile Frankfurt-Greisheim und Schwanheim – der größte Chemieunfall bei der Hoechst AG seit jener fatalen Unfallreihe im Frühjahr 1993. Die Konsequenzen sind weitgehend: Auf Anordnung der Behörden müssen Schulen und Kindergärten in Schwanheim heute geschlossen bleiben. Auch sollten die Kinder in den nächsten Tagen nicht im Schnee spielen, denn das weiße Gift unterscheide sich in seiner Konsistenz kaum von richtigem Schnee. Weiter wurde die Bevölkerung in den betroffenen Stadtteilen gestern aufgefordert, das in den Kleingärten am Mainufer angebaute Wintergemüse nicht zu verzehren.

Der Vergleich mit der Störfallserie von 1993 reizt auch politisch. „Offensichtlich hat die Hoechst AG aus der schweren Störfallserie von 1993 nichts gelernt“, schimpft der umweltpolitische Sprecher der Landtagsfraktion der hessischen Bündnisgrünen, Horst Burghardt. Tatsächlich hatten Hoechst und AgrEvo in ersten Meldungen nach dem Störfall verlautbaren lassen, daß es sich bei Isoproturon um eine „mindergiftige Substanz“ handele, die sich nur auf dem Werksgelände niedergeschlagen habe. Entsprechend gelassen reagierte zunächst die Berufsfeuerwehr in Frankfurt und verzichtete auf den Einsatz von Sirenen zur Warnung der Bevölkerung. Erst knapp zwei Stunden nach dem Störfall wurden die Menschen in Griesheim, Schwanheim und auch Kelsterbach über Rundfunk aufgefordert, Türen und Fenster geschlossen zu halten.

Auch die von Hoechst verwendete Bezeichnung „mindergiftig“, ist mindestens zweifelhaft. Laut Gefahrenstoffverordnung, so Burghardt, „müssen Chemikalen so eingestuft werden, wie sie sich auf den Menschen auswirken“. Das wisse man bei der Hoechst AG und bei AgrEvo genau. Isoproturon sei eine „gesundheitsgefährdende Substanz“, deren krebserregende Wirkung in Tierversuchen eindeutig nachgewiesen worden sei.

Der Geschäftsführer der AgrEvo, Jürgen Aßhauer, entschuldigte sich am Sonnabend für die mangelhafte Informationspolitik seines Hauses – und für den Störfall. Allerdings hätten erst umgehend veranlaßte Bodenproben ergeben, daß sich Isoproturon auch auf der anderen Mainseite in Schwanheim niedergeschlagen habe. Die Giftkonzentration in Schwanheim betrug am Sonnabend bis zu 500 Milligramm pro Quadratmeter Boden, sagte Aßhauer. In der Landwirtschaft würden dagen bei der Unkrautvernichtung maximal 200 Milligramm pro Quadratmeter Ackerland eingesetzt.

Trotz der nachgewiesenen karzinogenen Wirkung der Substanz hieß es bei AgrEvo, daß Erwachsene täglich bis zu 200 Milligramm und Kinder bis zu 40 Milligramm Isoporoturon „essen“ (!) könnten, ohne daß ihre Gesundheit dadurch gefährdet würde.

Für die Hoechst-Tochter AgrEvo kommt der Unfall besonders ungelegen. AgrEvo, an der auch Schering beteiligt ist, arbeitet an der Entwicklung genmanipulierter pestizidresistenter Pflanzen. Die Chemiefirma führt zur Zeit gegen den Widerstand der Bevölkerung einen Großversuch mit gentechnisch veränderten Pflanzen im hessischen Wölfersheim durch. Klaus Peter Klingelschmitt