Giftiger Schnee über Frankfurt

■ Bei einem Störfall bei Hoechst tritt eine Tonne Pestizide aus. Konzern warnt vor verseuchtem Gemüse

Wiesbaden (taz) – Der Ablauf liest sich wie das Drehbuch zu einem Gruselfilm. 6.47 Uhr Samstag früh: Ein Mitarbeiter der Hoechst-Tochter AgrEvo hantiert mit einem Überdrucktrockner, in dem sich das Pestizid Isoproturon befindet. Das Gerät arbeitet nicht ordentlich, der Arbeiter fummelt ein wenig an einer Schraube, es kracht. Nach einer Überdruckexplosion sprengt ein Filter des Geräts ein vier Quadratmeter großes Loch ins Hallendach. Mindestens eine Tonne des weißen, pulverigen Pestizids folgen.

Zweiter Akt: Chaos bricht aus. Erst um 7.28 Uhr, 40 Minuten nach dem Störfall, verständigen Mitarbeiter von AgrEvo die Werksfeuerwehr der Hoechst AG. Die Behörden werden gegen 7.30 Uhr informiert, auch die Berufsfeuerwehr in Frankfurt. Das weiße Gift ist im verschneiten Frankfurt zunächst schwer zu orten. Und noch immer spricht die Hoechst AG von einer „mindergiftigen Chemikalie“. Trotzdem werden Eltern aufgefordert, ihre Kindern nicht im Freien spielen zu lassen.

Dritter Akt: Lange hat es niemand gemerkt. Erst am Nachmittag gegen 14.30 Uhr stellen Hoechst-Mitarbeiter fest, daß auch die gegenüberliegenden Stadtteile Schwanheim und Goldsterin großflächig mit dem krebserregenden Isoproturon beregnet wurden. Eine Fläche von 50 Hektar, rund 500.000 Quadratmeter, ist betroffen. Bis in die Nachtstunden müssen Feuerwehrleute und Arbeiter in Schutzanzügen den verseuchten Schnee zusammenfegen und in Fahrzeugen der Hoechst AG und des Stadtreinigungsamtes abtransportieren.

Vierter Akt: Die hessische Umweltministerin Margarete Nimsch (Bündnis 90/ Die Grünen) schließt die Giftproduktion der AgrEvo. Eine Wiederinbetriebnahme sei erst möglich, „wenn die Ursache für den Störfall vollständig aufgeklärt und eine Wiederholung ausgeschlossen ist“, erklärt die Ministerin. Sie bestellt die Spitze des Hoechst-Konzerns für gestern zum Rapport.

Der Hoechst-Vorstand schüttet Asche auf sein Haupt. Erneut zu spät, gesteht ein Vorstandsmitglied geknickt, sei die Bevölkerung vor der gesundheitsgefährdenden Substanz gewarnt worden. Wie auch im Februar 1993, als der Stadtteil Schwanheim schon einmal mit einer giftigen Chemikalie verseucht worden war, setzt es geharnischte Kritik an der mangelhaften Bereitschaft der Hoechst AG, mit den Betroffenen und den Behörden zu sprechen. Nicht einmal die 14 nach dem Störfall von 1993 eigens installierten Sirenen hätten die Bevölkerung rechtzeitig gewarnt. Dabei sollte der Alarm nach allen Störfällen ausgelöst werden. Nimsch: „Lieber einmal zu viel gewarnt als einmal zu spät.“

Fünfter Akt: Nimsch fordert vom Vorstand der Hoechst AG zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen. Überprüfungen des Sonderprogramms Anlagensicherheit (Spas) im Werk Griesheim müßten beschleunigt durchgeführt werden. Auch wenn die Hoechst AG erkläre, das Pestizid sei „nicht akut gesundheitsgefährdend“, könnten Langzeitschäden nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Die Hoechst AG warnt vor dem Verzehr von Isoproturon-beregnetem Wintergemüse.

Umweltschützern reicht das nicht. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) erstattet Strafanzeige gegen die Verantwortlichen der Hoechst AG und der AgrEvo GmbH. Sie hätten gegen das Bundesimmissionsschutzgesetz verstoßen und die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet, sagt Eduard Bernhard vom Vorstand des BBU.

Klaus-Peter Klingelschmitt Seite 6