Wer die Mittel hat, kommt hin

GUS gilt als Drehscheibe für die Reise nach Westeuropa  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Zur Verblüffung Rußlands und der Welt schlugen im August 1993 etwa 150 SomalierInnen auf einem kleinen Platz in Moskau ihre Zelte auf. Gekommen waren sie über die grüne Grenze in Aserbaidschan und Kasachstan. Diese Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion auf sich allein gestellt sind, können ihre Grenzen nicht mehr wasserdicht kontrollieren. Innerhalb der GUS aber läßt sich ohnehin jegliche Grenzkontrolle umgehen – im wahrsten Sinne des Wortes.

„Rußland ist heute das ideale Sprungbrett für alle, die etwas aus der Dritten Welt nach Europa oder in die USA transportieren wollen, seien es nun Menschen, Waffen oder Drogen“, sagt Gabriel Kotchofa, Erdölspezialist aus Benin und Sprecher der ausländischen Studenten in Moskau. „85 Prozent der illegalen EinwandererInnen reisen ganz offiziell mit gefälschten Dokumenten ein“, schätzt Kotchofa. Die Zollbeamten, ohnehin zumeist inkompetent, werden durch eine unklare Gesetzeslage in ihrer Korruptheit bestärkt. „Jedes Gesetz in diesem Lande ist auf verschiedene Weise anwendbar. Und mir kommt es so vor, als ob dies mit Absicht so eingerichtet sei“, grübelt der 36jährige. „Und wie soll ein Zollbeamter, der umgerechnet etwa 50 Dollar im Monat verdient, nein sagen, wenn ihm jemand hundert Dollar über den Tisch schiebt?“

Studentensprecher Gabriel Kotchofa begann sich in die Problematik des illegalen Transits zu vertiefen, als seine afrikanischen KommilitonInnen nach dem Zerfall des Sowjetimperiums plötzlich ohne Stipendien dastanden. Viele versuchten, in den Westen zu reisen. Inzwischen hat zwar der russische Staat die von der UdSSR zugesagten Verpflichtungen übernommen und die Heimreise der Ausgebildeten finanziert. Aber es sind etwa 2.000 von ihnen zurückgeblieben, die entweder daheim keinerlei Perspektive sehen oder deren Status unklar ist.

„Heute mußte ich bei unserem Botschafter wegen eines Kommilitonen vorsprechen“, berichtet Kotchofa. „Er hielt sich bei einer alten Frau versteckt. Einen warmen Anorak konnte er sich nicht leisten. Trotz zwanzig Grad minus zog es ihn manchmal nach draußen. Vorgestern wurde er mit einer schweren Erkältung eingeliefert. Heute ist er tot.“

Kein Einzelfall. Wessen Papiere allzu grob zusammengeschustert sind oder wem das Geld zur Weiterreise fehlt, der findet in Rußland, anders als in Westeuropa mit seinen vielen Dienstleistungsbetrieben, keinen schwarzen Arbeitsmarkt. Die Alternative zum Verbrechen ist dann nur die physische Auflösung im russischen Raum. „So gesehen“, klagt Gabriel, „ist die strikte Visa-Politik der westeuropäischen Staaten für Reiche gemacht. Garantiert jeder, der unbedingt ins EU-Gebiet will und die nötigen Mittel dazu hat, kommt auch hin. In den Moskauer Konsularabteilungen einiger solider westeuropäischer Staaten werden heute Visa schlicht verkauft.“

Die Nachrichten vom Tod indischer und srilankischer Flüchtlinge füllten vor einigen Jahren die Spalten der westlichen Presse. Russische Schlepper hatten die Menschen in Bussen mit doppeltem Boden über die Grenzen zu ehemaligen Ostblockstaaten zu schmuggeln versucht und sie einfach ersticken oder erfrieren lassen, als sich die Aktion allzu mühselig gestaltete. Direkter Menschenschmuggel spielt Kotchofas Informationen zufolge heute eine eher marginale Rolle. Die meisten russischen Schlepper tragen jetzt weiße Kragen und Manschetten. Sie sitzen in Reisebüros oder in den Auslandsämtern der Universitäten. Dort werden Einladungen zum Studium an GUS-Unis verhökert – als Zwischenstation auf dem Weg nach Westeuropa.

Und dann verrät der Afrikaner in Moskau noch ein „kleines Geheimnis“. „Afrikaner kann man ja vom Äußeren her nicht als Angehörige eines ehemaligen Sowjetvolkes ausgeben. Aber einen Afghanen von einem Tschetschenen zu unterscheiden oder einen Inder von einem Usbeken, das ist fast unmöglich. Diese Leute bekommen in der Regel Pässe der Russischen Föderation, und zwar echte. Neulich stand in der Zeitung, daß hier aus dem Safe eines Meldeamtes hundert ungestempelte Pässe verschwunden waren. Verantwortlich gemacht wurde dafür niemand. Hinter diesen Transaktionen stehen hochgestellte Persönlichkeiten und großes Geld. Alle für Paß- und Visa-Angelegenheiten zuständigen Behörden sind darin verstrickt“, weiß Gabriel Kotchofa.

Der Versuch, herauszubekommen, wer im russischen Innenministerium für Schlepperorganisationen zuständig ist, war vergeblich. Die lapidare Antwort lautete: „Da wir staatlich sind, können wir uns nicht mit der Organisation illegalen Transits beschäftigen.“