Der Weg ist frei

■ Harold Brodkey, die Sphinx der US-Literatur, starb 65jährig an Aids

Es war denkbar unamerikanisch, das Leben dieses New Yorker Grandseigneurs mit silberberingtem Stock. Vor allem anderen bestand es aus einem gigantischen, bis zum Äußersten hinausgezögerten Aufschub. Und als die lange Zeit des Wartens endlich vorbei war, war es eine Riesenenttäuschung. Die Amerikaner mochten Brodkey nicht für den Roman, den er ihnen nach über 30 Jahren Arbeit, nach etlichen Vorankündigungen, nach vielen Vorschüssen, überreicht hatte. Dieses Buch aber hat Brodkeys Leben bestimmt.

Sich und sein Schreiben fremden Ansprüchen verweigert und sich dem Markt konsequent entzogen zu haben, ist nicht Brodkeys geringste Leistung. Er war vor allem darum besorgt, „The Runaway Soul“ ohne Einflußnahme zu Ende zu bringen. Daß ihm diese Haltung respektvolle Bewunderung eingetragen hat, solange das Werk nicht vorlag, ist nicht verwunderlich. Er war nicht einzuschätzen. Daß sie ihm boshafte Kritik brachte, als das Buch dann da war, war ebenfalls vorauszusehen: Die große Sphinx hatte endlich die Hosen runtergelassen.

Was Brodkey sonst geschrieben hat, steht im Schatten dieses 1991 erschienenen Romanmassivs von der flüchtigen Seele. Nur als er 1958 seine Erzählungen „Erste Liebe und andere Sorgen“ veröffentlichte, mag er noch nicht geahnt haben, was auf ihn zukommen würde. Damals war Brodkey noch ein arroganter und hochintelligenter Harvard-Absolvent, für „erschreckende“ Brillanz und Frühreife gerühmt und gefürchtet.

Ab dann aber hat Brodkey sich selbst wie einen Roman behandelt, im Entwurf vorhanden, aber nicht ausgeführt, seine Existenz lag in dem, was kommen sollte, und in dem, was gewesen sein mag. Es gibt vermutlich keinen Schriftsteller, über dessen Kindheit wir so intim Bescheid wissen, wie über die des Harold Brodkey. Denn es spricht nichts dagegen, daß Wiley Silenovicz, der Held vieler Erzählungen und von „Die flüchtige Seele“ das Alter ego Brodkeys ist.

Brodkey wurde 1930 in Illinois als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer geboren. Kindheit und Jugend waren eine Katastrophe: Nach dem Tod der Mutter im zweiten Lebensjahr verstummte Brodkey für zwei Jahre. Der alkoholsüchtige Vater verkaufte ihn für 350 Dollar an Verwandte in St. Louis/Missouri. Der neue Vater starb nach mehreren Schlaganfällen zehn Jahre später, gleichzeitig erkrankte die Ersatzmutter an Krebs. Brodkey hat das Sterben früh kennengelernt. Die eigentliche Hölle aber war seine Stiefschwester, mit der sich ein Leben lang besonders beschäftigte. Vielleicht ist es der Energie, die dieser Haßbeziehung entwachsen ist, zu verdanken, daß er die Idee vom Künstlerdasein ernst nahm.

Mit Sicherheit hat Brodkeys Werk auch Schwächen. Vor allem sind es die mit Mutmaßungen überladene Sprache und die Egozentrik seiner Erzählwelt. Aber mit der sich in mikroskopische Wahrnehmung verästelnden Beschreibung seelischer Vorgänge hat er auch einen Maßstab gesetzt. Er hat gesagt, daß jetzt die Form des Dialogs neu überdacht werden müsse und daß sein Thema der Kampf gegen den Absolutismus einer Sichtweise sei. Mit beidem dürfte er recht gehabt haben.

Die Erzählung vom Tod der Schwiegereltern ist die Titelgeschichte der „Stories in an Almost Classical Mode“ von 1988, die quasi als leichter konsumierbares, aber auch eleganteres Nebenprodukt entstanden. In Deutschland wird der Stellenwert der Titelgeschichte leicht vergessen, weil hier die Erzählungen unter dem Titel „Unschuld“ und „Engel“ erschienen. Dabei spricht vieles dafür, daß für Brodkey nicht die Erzählung vom „Superfick“ mit der Traumfrau Orra Perkins der zentrale Text war, sondern eben dieser Text mit der Gewalt der Ödipusgeschichte. Nach dem Tod des Vaters wird der 13jährige von der schwerkranken Mutter förmlich aufgesogen und von ihr mit der Frage: „Warum versetzt du dich nicht an meine Stelle und verstehst, was ich durchmache?“ in eine gräßliche Dialektik verstrickt, der er sich ein Leben lang nicht mehr entziehen konnte. Trotzem war Brodkey verwundert, daß sich bei der „flüchtigen Seele“ alle auf sein Alter ego Silenovicz und nicht auf die anderen Figuren, die doch so ausführlich zu Wort kämen, bezogen haben. Ein unverstandener Versteher.

Für Freud hat Brodkey nicht viel übrig gehabt. In klassischen Zeiten hieß es, daß Shakespeare nach Gott am meisten geschaffen hat. Vielleicht war Brodkeys Fehler, daß er in der fast klassischen Zeit vor Freud am meisten schaffen wollte. Als Harold Brodkey an Aids erkrankte, waren die Würfel seines Lebens mit der Veröffentlichung seines Romans schon gefallen (ob wir schon wissen, wie sie liegen, ist eine andere Frage). In einem Interview hat er gesagt, Sterben sei das Profitabelste, was er bisher gemacht habe. Außerdem reagiere man auf ihn viel respektvoller. Und erst nach seinem Tod werde darüber entschieden, ob sein Roman Bestand habe. Jetzt ist er 65jährig in New York gestorben. Der Weg ist frei. Peter Michalzik