Der Bürgerkrieg war der totale Kick

Früher fuhren sie mit dem Auto durch den Bombenhagel in der Stadt. Heute rauchen sie Joints, trinken Bier und hängen in Bars herum. Die Nachkriegsjugend im Libanon sucht neuen Nervenkitzel  ■ Aus Beirut Björn Blaschke

Die Aschenbecher quellen über, auf dem Schreibtisch kleben unzählige Stifte in einem Gemisch aus angetrockneten Kaffeepfützen und Farbklecksen, der Boden ist übersät mit CDs. Inmitten dieses kreativen Chaos liegt ein schlanker junger Mann auf seinem Bett und zappt sich durch die Fernsehprogramme. Plötzlich springt er auf und ruft: „Schluß jetzt – let's go!“

Der 27jährige Haytham ist Musiker, Designer, Hörfunkmoderator – und vor allem eines: Kenner der Beiruter Szene. Er weiß, was wann und wo los ist, und er kennt jeden, der in der libanesischen Jugendkultur etwas zu sagen hat. An diesem Abend ist das „Henry J. Beans“ angesagt. Der Schuppen hat erst vor ein paar Monaten aufgemacht und – obwohl er ganz in der Nähe ist – fahren Haytham und seine Freunde mit dem Auto hin; schließlich ist Samstag, und wer weiß, was die Nacht noch bringen wird?

Das „Henry J. Beans“ ist brechend voll. Man spricht englisch, wenn es geht, mit amerikanischem Akzent. Das Bier kostet je nach Herkunftsland zwischen zwei und vier, der Margarita zehn US-Dollar. „Hier ist nichts unmöglich – das hier, das ist Beirut“! – wenn man das nötige Kleingeld hat. An den Wänden hängen Fernseher, die Videoclips der US-Charts rauf und runter dudeln. Amerika pur. Der erst Anfang der neunziger Jahre beendete Bürgerkrieg ist hier kein Thema.

Die meisten der jungen Gäste haben den Krieg nur am Fenseher erlebt – im sicheren Exil. Sie wurden von ihren reichen Eltern außer Landes gebracht und sind erst nach Kriegsende in den Libanon zurückgekommen. Aber auch Haytham und seine Freunde, die das Land während des Bürgerkrieges nicht verlassen haben, sprechen nur selten über den zurückliegenden Krieg. Für sie ist heute vor allem eines wichtig: ihre Arbeit, um das inflationsgeschüttelte Leben im Libanon finanzieren zu können.

Irgendwann verwandeln sich die Kellnerinnen in Cheerleader- Girls und tanzen nach einer „Henry-Hymne“. Haytham und seinen Freunden reicht's. Beim Hinausgehen erzählt jemand, daß die Lombrix eine Jam Session geben. Das nächste Ziel dieses Abends steht damit fest, schließlich sind die Lombrix die ersten libanesischen Pop-Musiker, die eine CD herausgebracht haben.

Die Fahrt geht quer durch die Stadt nach Hazmiyya. „Früher“, so erzählt Haytham, „konntest du nicht so leicht da rüber.“ Hazmiyya liegt in Ost-Beirut, also im christlichen Teil der Stadt. Während des Krieges war der Osten von West- Beirut aus nur über eine Demarkationslinie, die „Grüne Linie“, zu erreichen. Heckenschützen machten sie 15 Jahre lang zum Todesstreifen. Zu erkennen ist die alte „Grüne Linie“ sofort: Die Laternen sind kaputt, und nur im Aufblenden der Autoscheinwerfer sind links und rechts der Straße die Häuser zu sehen – gigantische Totenköpfe. Haytham drückt auf das Gaspedal und rast über die breite Straße.

„Drive safely, drive fast!“ – das hat er selbst den Autofahrern während des Krieges geraten, als er bei „Radio Lebanon“ das englischsprachige Programm moderierte. Wer schnell fährt, bietet den Scharfschützen ein schlechtes Ziel. „Fahrt sicher, fahrt schnell“ – das Ende seiner Verkehrshinweise, die keine Staus, sondern die aktuellen Bombardements meldeten. „Anyway, you're still listening to Radio Lebanon – 96,2 on your FM-Dial. We continue till two – if we survive this bombing time.“

Die Eintrittskarten zur Jam Session der Lombrix – Hamburger und Bier – kaufen Haytham und seine Freunde in einem Fastfood- shop. Die Band tritt gleich um die nächste Straßenecke auf. Probenkeller gibt es in Beirut keine, und so haben die Musiker im siebten Stock eines Hochhauses, mitten im Wohnzimmer des Appartements, das die Eltern eines Lombrix ihrem Sohn gekauft haben, ihre Anlage aufgebaut. Als Haytham die Boxen, Verstärker, Mikros, Gitarren und das Schlagzeug sieht, pfeift er: „Exzellent!“ Er weiß, wovon er redet, macht er doch selbst Musik. Seine Band „Then came Everet“ brachte noch während des Bürgerkriegs ihre erste Kassette auf den Markt – ein Tape, das vom Krieg handelt; ein Tape ohne Namen, dafür mit einem Untertitel: „Dedicated to all who are depressed“ – Gewidmet all jenen, die deprimiert sind“.

Die Lombrix sind erst nach Beirut zurückgekommen, als der Krieg vorbei war. Sie singen von Liebe und Leidenschaft, Lust und Laster, während ein Joint nach dem anderen die Runde macht. Zwei glatzköpfige Techno-Freaks, die gerade aus Paris gekommen sind, um ein paar Verwandte zu besuchen, haben das Haschisch in den Bergen besorgt. „Am Tag die Sonne Beiruts im Gesicht“, sagt Haytham über die Kids der Reichen, „in der Nacht Grünen Libanesen im Mund.“

Als die Lombrix ihr Repertoire einmal komplett durchgespielt haben, sind alle stoned oder betrunken. Aber die Nacht ist noch lange nicht zu Ende. Haytham und seine Freunde wollen weiter ins „B-018“ ziehen. Eigentlich dauert die Fahrt nicht lange, weil spät nachts nur noch wenige Autos unterwegs sind. An einem syrischen Checkpoint halten jedoch Soldaten Haythams Wagen an. „Stopp – die Papiere!“ Langsam geht der Soldat, die Kalaschnikow im Anschlag, um den Wagen herum. Spannung liegt in der Luft; jeder registriert, kontrolliert genau die einzelnen Bewegungen des anderen. Dann plötzlich: „Okay, ihr könnt fahren!“

Haytham passiert den Checkpoint. Langsam verfliegt die Spannung. Dafür dringt durch die offenen Seitenfenster der Geruch der Nacht in das Wageninnere: der süßliche Gestank verfaulenden Mülls, der an den Straßenecken liegt. „Weißt du“, durchbricht Haytham das Schweigen, „Situationen wie die eben am Checkpoint machen den Krieg in mir wieder lebendig. Da spürst du, wie sich alles in dir anspannt. Aber die Erleichterung danach, die ist einfach klasse. So etwas gibt dir einen Kick, es läßt dich spüren, daß du lebst.“

Das „B-018“ – früher ein grauer Flugzeug-Hangar, heute einer der In-Läden Beiruts – ist brechend voll. Rote Lampions und orientalisch verschnörkelte Tische bringen etwas Farbe in die ansonsten kühle Atmosphäre. Beim ersten Long Island begrüßt Haytham ein paar Bekannte und führt mit Ahmed, dem Wirt des „B-018“, einen gepflegten Small-talk. Als der die Rolling Stones auflegt und die meisten Gäste tanzen gehen, beginnt Haytham mehr über sein Leben im Krieg zu erzählen. Viele Kinder und Jugendliche, die wie er während des Krieges in Beirut aufgewachsen sind, seien mit der Gewalt vertraut. Lange Zeit hätten sie unter einer Daueranspannung gelebt, die ihnen die Gesetze des Krieges diktiert habe. „Während der Kämpfe“, sagt er, „galten in Beirut zwei Regeln. Die erste: immer eine mögliche Deckung im Auge haben – Seitenhöfe, schwere Müllcontainer, Mauervorsprünge. Bei plötzlichem Beschuß mußtest du in Bruchteilen einer Sekunde richtig reagieren. Und trotzdem konnte es dich erwischen – das war die zweite Regel!“

Nachdenklich sieht der junge Mann in seinen zweiten Long Island. Die anderen Gäste scheint er gar nicht mehr wahrzunehmen. Dann zündet er sich eine Zigarette an und beobachtet, wie die Glut immer größer wird. Als sie – zu Asche geworden – auf den Boden fällt, fährt er fort. Die Gewalt sei für ihn Alltag geworden. „Wir wuchsen mit dem Krieg auf – und der Krieg wuchs in uns – no risk, no fun.“ Der Krieg wurde für ihn nach und nach zum Freizeitvergnügen; Trapezakrobatik – ohne Netz; Bungee-Springen – an einem porösen Gummiseil. Er und seine Freunde seien während des Krieges oft über die Greenline gefahren – nur so zum Spaß, um den Scharfschützen auszuweichen. Oder sie fuhren während der Bombardements spazieren – immer auf der Suche nach dem absoluten Nervenkitzel.

„Soll ich dir einen meiner Kicks beschreiben?“ fragt Haytham und beginnt, ohne eine Antwort abzuwarten: „Es war ein Sonntagnachmittag. Überall hörtest du Bomben. Kaum Autos auf den Straßen. Mit einem Freund beschloß ich, ein paar Eier und Käse essen zu fahren. Plötzlich fiel eine Bombe auf einen Krankenwagen, der direkt vor uns fuhr. Der Körper des Fahrers knallte durch die Windschutzscheibe – einfach so. Das Auto verbrannte und mit ihm zwei Körper bei lebendigem Leibe. Ich weiß, das hört sich krank an, aber das war etwas Besonderes. Im Krieg zu leben, das ist eine Herausforderuung – fürs Leben! Ja, der Krieg ist ein thrill, das ist das richtige Wort – ein THRILL!“

Die Ordnung des Krieges, das Balancieren auf einer Rasierklinge; nicht zu wissen, ob man überleben oder sterben wird, das habe ihn geprägt. Heute, nach dem Ende des Krieges, sei das Leben langweilig geworden. „Arbeiten, schlafen und samstags dann die Suche nach der besten Party, Joints und Bier. Es mag sich verrückt anhören, aber ich persönlich wünsche mir – und ich weiß, daß es vielen so geht –, daß der Krieg wiederkommt – das hatte was ...!“

Als Haytham und seine Freunde das „B-018“ verlassen, ist die Nacht fast vorüber. Die Straßen von Beirut sind nun menschenleer. Nur auf der Corniche, der Beiruter Küstenpromenade, sitzen einige verliebte Pärchen und warten darauf, daß die Sonne aufgeht.

Während des Krieges sei es kaum anders gewesen, meint Haytham. „Die Geliebte in einem Arm, in dem anderen eine Kalaschnikow – und über allem ein romantischer Sonnenaufgang.“ Dieser kleine Unterschied mache das Leben heute eben aus. Wie lange er für den Entzug von der Droge Krieg brauche, wisse er nicht – vielleicht so lange, wie der Krieg gedauert hat? „Frage mich noch mal in zehn Jahren – wenn wir dann noch leben.“ Was er wisse, sei, daß der thrill vorbei ist – „I gonna tell you that: the thrill ist gone – the thrill is gone!“