■ Zensiert
: Der Notenfrust

Die Zeremonie wiederholt sich alle sechs Monate, kurz bevor es Zeugnise gibt. Die Person, die allgemein durch den roten Lehrerkalender als ein solcher legitimiert ist, zelebriert das Notengeben. Da sitzt man als Schüler und durchlebt bange Minuten, ob sich das Lernen im letzten Halbjahr ausgezahlt hat. Wird es der Kleine mit Bart davorne noch mal von der Fünf in Bio absehen? Erbarmungslos geht es in alphabetischer Reihenfolge. Die Spannung steigt von Namen zu Namen, bis man dann endlich seinen eigenen hört:“Ja, das war schon nicht schlecht, aber...“ Dieses Aber wird es in sich haben. In diesem Nebensatz kommt die Entscheidung über alles oder nichts. „Aber leider muß ich dir trotzdem die Fünf geben. Im nächsten Semester gibt es aber für dich gute Chancen...“ Was nun folgt, ist jedem, der auch nur länger als ein halbes Jahr in der Schule verweilt hat, allzugut bekannt. Eines ist aber gewiß, schuld ist immer der Schüler. Nie wird einer der Lehrer auf die Idee kommen, daß er der Grund dafür ist, daß die gesamte letzte Reihe in Tiefschlaf versinkt, oder daß eine Aufgabenstellung zu einem Thema, das nie durchgenommen wurde, auch durch eine Frage mit fünf Fremdwörtern und drei Nebensätzen auch nicht einleuchtender wird. Wahrscheinlich liegt das aber am kompletten Ignorieren der Schüler durch einige Lehrer, die als notwendiges Übel oder Berufsrisiko gesehen werden.

Dieses Ritual des Notengebens zieht sich in der Woche vor den Zeugnissen von Stunde zu Stunde. Nichts Schlimmes,so denkt man, hat der zu erwarten, der bereits seine Mathematiknote kennt, aber auch die „Rache“ von Nebenfachlehrern kann süß sein... Nachdem die Zeugnisse verteilt sind und sich wie immer herausgestellt hat, daß der Klassenstreber ( völlig zu Unrecht) nur Einsen bekommen hat, zeigen sich drei Schülertypen:

Typ A, der allgemein als Streber bezeichnet wird, ist froh und fragt sich, wann es ihm endlich gelingt eine Eins Plus zu bekommen.

Typ B verfällt in Selbstmitleid und schwört sich, im nächsten Halbjahr alles besser zu machen. Er stürzt sich sofort an die Arbeit – jedenfalls bis zum nächsten Wochenende.

Typ C läßt sich als Märtyrer eines zensurischen Unrechtsystems feiern und schwänzt zur Feier des Tages die nächste Englischstunde.

Mark Riechel, 12. Klasse,

Altes Gymnasium