Zerbrochene Landschaften

■ Ruth Berghaus, Opernregisseurin und Ex-Intendantin des Berliner Ensembles, ist tot

Ekkehard Schall, Hilmar Thate und ihre Männer hatten Ledermasken vor dem Gesicht, die ihre Züge trugen. In rhythmischem Sprechgesang reizten die Heere der beiden Anführer sich gegenseitig auf. Die Krieger füllten von beiden Seiten die Bühne, sie stampften vorwärts zu einer dumpfen Musik, formierten sich zu immer neuen Figuren von Masse und Gewalt. Sie kämpften und tanzten, riefen und sangen gleichzeitig. Ihre Wucht war ungeheuer. Ich glaube, daß es so war; ich war zwölf. Das Bild der zum Kampf gespannten und gleichzeitig vom Tanz gebannten Leiber ereignete sich vor 32 Jahren und ist unvergeßlich. Die berühmte Kampfszene aus „Coriolan“ im Berliner Ensemble, choreographiert von Ruth Berghaus.

Spätere Berghaus-Krieger waren zerbrechlicher. Zur Wiedereröffnung der Dresdner Semperoper inszenierte sie die Uraufführung von Siegfried Matthus' „Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Der lange Ritt der jungen Männer durch die ungarische Steppe war eine Fahrt in einem riesengroßen Ehebett, eingebaut in so etwas wie einen Eisenbahngüterwagen. Kein Zeichen hätte deutlicher sein können. Die Jünglinge ziehen nicht schlechthin in den Krieg, sie schütteln vor allem das Kindsein von den Schultern, fort von den Eltern.

Die schwierigen Zeichen und Metaphern der Berghaus waren oft so leicht zu begreifen, wenn man nur menschlich auf ihre Figuren sehen wollte. Aber das scheint durch das Panzerglas der Tradition nicht selten unmöglich. „Don Giovanni“ an der Berliner Staatsoper: Donna Elvira erscheint auf Giovannis finalem Festmahl. Sie tritt auf und trägt ein weißes Bündel im Arm; genau besehen ist es ein Wickelkind. Das Publikum heulte auf vor Wut und Spott; nach Minuten erst geht die Vorstellung weiter. Und es geschieht das Logischste, das, was da Ponte und Mozart vorgeschrieben haben: Elvira läßt das Bündel fallen, es entrollt sich, und sie steht im Nonnengewand. Von ihren Glücksträumen mit dem Mann ist nichts mehr übrig.

Vieles mehr noch an diesem „Don Giovanni“ reizte die Musikgenießer und war doch nur im Sinne Mozarts folgerichtig gedacht. Das Publikum buhte sich die Lunge aus dem Hals, die Sänger muffelten, die Inszenierung wurde nicht oft gespielt. Einmal mehr war die Regisseurin kompromißlos geblieben. Nur so konnte immer wieder wichtig und belangvoll sein, was sie auf der Bühne tat.

Sie stand oft nach einer Premiere vor dem Vorhang, nahm das Gebrüll der Unverständigkeit und Anfeindung entgegen, und meist sagte dann irgendein Herr im Publikum zu seinem Nachbarn, das mache ihr nichts aus, sie lege es ja darauf an. Zu aller spießigen Denkfaulheit ihrer Arbeit gegenüber und allen politischen Anfeindungen kam hinzu, daß es eine Frau war, die so unverfroren den Kulturbetrieb im Osten wie im Westen provozierte.

Selten nur war es anders. In den achtziger Jahren inszenierte Ruth Berghaus zum wiederholten Mal „Die Verurteilung des Lukullus“ ihres Mannes Paul Dessau an der Berliner Staatsoper; endlich einmal, ohne daß sich irgendeine Mißtrauensdemonstration irgendwelcher Funktionäre im Hintergrund ankündigte. Auch das Publikum hatte sie diesmal ganz auf ihrer Seite. Kaum beschreibbar die Freude und Gelöstheit, mit der sie den einhelligen Beifall genoß.

Es dauerte lange, bis sie einige solcher Erfolge mehr genießen konnte. Die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Michael Gielen in Frankfurt am Main, inzwischen fast zur „Ära“ verklärt, gehört insgesamt dazu. Dort gelang ihr, was die sozialistischen Gralshüter exemplarisch bürgerlicher Kunst verhinderten, eine grandiose „Ring“- Inszenierung. Poppige und politische Anspielungen, Götter gar im Negligé, das vertrug keine Deutsche Staatsoper der DDR.

Wieder mit Gielen errang sie in den Wirren der Wende aber auch an diesem Haus einen geheimnisvollen Triumph. Debussys „Pelleas und Melisande“ geriet ihr zu einer Wanderung durch zerbrochene Landschaften voll unentdeckten Zaubers. Auf diese Inszenierung fiel ein zeitentrücktes Licht. Fragile Gestalten spielten zärtlich müde Spiele in einer Zwischenwelt. Die Zwischenwelt draußen war sehr anders, nur genauso realitätsentrückt. Berghaus hatte den Anti-Nerv der Stunde getroffen.

Ruth Berghaus' Kunst auf der Opernbühne hat keinen Vorgänger; sie wird auch keinen Nachfolger haben. Berghaus hatte viele Schüler, eine Schule hat sie nicht. Sie setzte Elemente zusammen, die sich in keiner anderen Biographie mehr zusammenfinden können. Die Körpersprache ihrer Bühnenfiguren kommt aus dem modernen Tanz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dessen Konzentrat sie in der Palucca-Schule in ihren Körper aufnahm und theatralisch weiterentwickelte. In vielen ihrer Inszenierungen gab es Bewegungschöre, die auf bis dahin unbekannte Weise deutlich machten, was Sänger und Sängerinnen nicht ausdrücken können. Daß eine Tänzerin dann am Theater weiterlernt, ist selten; Brecht und Weigel, deren Nachfolge sie von 1971 bis 1977 am Berliner Ensemble versuchte, sind Historie. Sie brachten Ruth Berghaus die distanziert modellhafte, verfremdete Sicht auf die Personen der Handlung bei.

Ein drittes ihrer Arbeitsgeheimnisse bestand darin, sichtbar zu machen, was sie in den tieferen Schichten der Autorenpersönlichkeiten ihrer Stücke fand. Komponisten und Dichter pflegen dies ihren Figuren mitzugeben. Öffentliche Psychoanalyse sozusagen, unter Schonung der Klienten vorgenommen an deren künstlichen Geschöpfen. Max Liebermann, dessen „Freispruch für Medea“ Ruth Berghaus auf die Hamburger Opernbühne brachte, stellte dies verwundert an der eigenen Seele fest. Nie kam die Regisseurin mit Fragen zu ihm. Was sie der mächtigen Barbarenkönigin Medea in die dressiert leerlaufende Zivilisation an Jasons Hof an sprengkräftigen Energien mitgab, fand sie im Stück. Die statuenhafte Körperfülle des Riesenweibes, das bezwungen und gleichzeitig erotisch begehrt wird, die Utopie ihrer Konkurrenz zu einem nervigen Jüngling als Nebenbuhler.

Der Tanz um Liebermanns Goldenes Vlies war die letzte große Opernpremiere in Ruth Berghaus' Regie. Man merkt noch gar nicht so sehr, daß sie jetzt fehlt. Regisseure sieht man nicht immer, sie treten einen Moment vor den Vorhang, wenn der letzte Ton verklungen ist und alle Sänger ihren Beifall entgegengenommen haben. Am letzten Donnerstag starb Ruth Berghaus mit 68 Jahren in Zeuthen bei Berlin an Krebs. Man wird den Verlust spüren, wenn zu lange keine Berghaus-Premiere mehr stattgefunden hat. Irene Tüngler