: „Es gibt keinen Tod, das weiß ich genau“
■ Ein neuer Dokumentarroman über Cato Bontjes van Beek, die Rote Kapelle und Catos Zellennachbarn, einen Überlebenden von Gefängnis, KZ und Krieg
„Die Tage vergehen freudlos, ohne daß den Menschen eine Hoffnung winkt. (...) Die Korruption in der Verwaltung, im Wirtschaftsleben, in der Wehrmacht, vor allem aber innerhalb der Gliederungen der Partei hat ein ekelhaftes Ausmaß erreicht. (...) Eine volksentfremdete Schicht von albernen, aber schädlichen Schwindlern und Angebern spielt heute die erste Rolle im Leben des Volkes.“ Auszüge aus einem der wichtigsten Flugblätter, das die Zustände im „Dritten Reich“ anprangert. Die Widerstandsgruppe, die es verfaßte, wurde berühmt als die Rote Kapelle – ein Code-Wort, das die Gestapo erfand. Mit dabei in der Roten Kapelle: Cato Bontjes van Beek, Tochter des Keramikers Jan Bontjes van Beek, aufgewachsen im künstlerischen Mikroklima Fischerhudes, wurde 1942 verhaftet, kam ins Berliner Polizeigefängnis am Alexanderplatz und wird am 4. August 1943, 22-jährig, in Plötzensee hingerichtet. Ein paar trockene Fakten, die dem Leben Catos natürlich kaum gerecht werden.
Manfred Flügge, 12 Jahre lang Dozent an der Freien Universität Berlin und Experte für Exilliteratur, hat den Lebensweg Catos in Form eines Dokumentarromans nachgezeichnet. Er verwebt Zeugenaussagen Überlebender mit Briefen Catos und fiktionalen Passagen zu einem ebenso erhellenden wie intensiven Text. Seine wichtigste Quelle: Rainer Küchenmeister, der Zellennachbar Catos im Gefängnis. Der Cato nie zu Gesicht bekam, mit der er jedoch Kassiber austauschte und mit der er nachts Gespräche führte, flüsternd. Rainer Küchenmeister überlebte den Gefängnisaufenthalt, dann das Konzentrationslager, später den Krieg. Küchenmeister, Kind aus einfachen Verhältnissen in Berlin-Friedrichshain, wird mit 16 ins Polizeigefängnis gesteckt. Trost gewährt bloß Catos Stimme über ihm: „immer frei von Angst und gelöst“.
Manfred Flügge nähert sich Catos und Rainers Leben aus wechselnden Perspektiven, streift die Entwicklung des Künstlerdorfes Fischerhude, die Genealogie der van Beeks, hält sich in ganz verschiedenen Milieus auf. Stets um Nüchternheit und Distanz bemüht, versucht er, dem Kreis um die Rote Kapelle nicht durch Spekulastives zu nahe zu treten. Für Chronologie interessiert sich Flügge wenig; ihm geht es um die geschickte Zusammenführung der verschiedenen Erzählstränge. Kein literarisches Meisterwerk ist entstanden, sondern ein formal interessanter Einblick in die Welt Catos: die persönliche und die geistige.
Flügge beschreibt Stimmungen: das Sächsische Palais in Berlin-Wilmersdorf, ein konspirativer Treffpunkt der Widerstandsgruppe, gern „Sexualpalais“ genannt, weil in dem Wohnblock „viele Unverheiratete wohnten“; die Berliner U-Bahn, wo ausgehungerte Zwangsarbeiter im getrennten Wagen zur Arbeit fahren mußten, denen Cato und ihre Freundinnen Lebensmittel zusteckten und ihre Briefe nach Hause weiterleiteten. Und natürlich den Widerstandsgeist in der Roten Kapelle. „Freundschaft, alte Bekanntschaft, persönliche Verbundenheit und oft auch Liebe war der Kitt, der die Gruppe zusammenhielt, wobei die Frauen nicht in alle Geheimnisse und Tätigkeiten einbezogen wurden“, schreibt Flügge. Die Widerständler handelten emotional und individuell. So „schwärmerisch, hoffnungslos, jenseits aller Taktik“ wie Cato Bontjes van Beek am 15. März 1943 ein Begnadigungsgesuch an den Präsidenten des Reichskriegsgerichts richtet – für ihren Freund Heinz Strelow. Für Cato selbst lehnen Hitler und Keitel einen Gnadenerweis ab. Ergänzt wird „Meine Sehnsucht ist das Leben“ um ein Personenverzeichnis, das in Stichworten über die personellen und familiären Verflechtungen Auskunft gibt. Alexander Musik
Manfred Flügge: Meine Sehnsucht ist das Leben. Aufbau Verlag 1996. 36 Mark.
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