: Auf nach Spitzbergen!
■ Flucht nach vorn: Der Kleinkrieg um die Bürgerpark-Tombola geht in die 39. Runde/ „Akustische Geiselnahme der Bevölkerung“
Köln hat den Karneval, Bremen hat „94 turbulente Tage“. Herr Wöhler kann seinen hanseatischen Enthusiasmus kaum zügeln, wenn es um die Bürgerpark-Tombola geht. Gilt es doch, zwei Millionen Lose unter das glückliche Volk Bremens zu bringen, d.h. 660.000 Einzelgewinne, vom Benz bis zum Bahlsenkeks. Alles zum Wohle des Bürgerparks und somit der Bürger selbst. Eben werden die lustigen rot-weiß-gestreiften Lotteriezelte in der City aufgeschlagen, alles brummt prächtig, trotz Winterskälte, gefrorener Farbe und eisigen Eisenträgern. Soviel Gutes: Da kann Wöhler, der mit einem kleinen Team das „Lotteriekontor“ managt, die Proteste einzelner Bürger nur schwer verdauen. Aber diesmal ist Wöhlers Team gewappnet. Wenn am 8. Februar – in Bremen-Nord einen Tag später – die Tombola-Turbulenzen beginnen, dann soll es keine Klagen mehr geben über die vermeintliche Stadtverschandelung und die allzu lautstarken Propagandisten.
Denn wenn es um so zentrale Menschheitsfragen geht, regeln die Bremer alles ganz genau. Niemand meckere mehr z.B. über die Gestaltung der Losbuden! Bzw. der „Gewinnausgabestellen und Ausstellungsvitrinen“ – das Wörtchen „Bude“ hört Friedrich Rebers, Erster Bürgerpark-Aktivist, nicht so gern. Die Gestaltung nämlich ist amtlich abgesegnet. Das Hochbauamt selbst griff zum Reißbrett, um die gestreiften Hütten zu kreieren. Unter Leitung des Amtsleiters Gottfried Zantke entstanden Entwürfe für neue, putzige Pavillons. Wo früher die schlichten, braunen Buden den Blick auf den Liebfrauenkirchhof verstellten, zieren nunmehr Häuschen von „heiterer, beschwingter, unverwechselbarer Form“ (lt. Amtsschreiben von 1989) den historischen Platz. Irgendwie auch mittelalterlich oder so, findet Rebers.
Nun ist es nicht nur so bunt wie auf dem mittelalterlichen Markt, sondern auch so lebhaft bzw. laut. Herr Wöhler bittet um Verständnis: Wenn seine jungen Burschen, 20 an der Zahl, über Lautsprecher die „Top-Gewinne“ anpreisen („eine 17tägige Premieren-Reise in der Zwei-Bett-Außenkabine auf der MS Gripsholm nach Island und Spitzbergen“) – dann, sagt Wöhler, könne die Freude mit den Jungs auch mal durchgehen. Und dann nörgeln die Anrainer, die Büro- und Geschäftsleute wieder, wie jedes Jahr: „Das Gequatsche nervt!“
Nicht in diesem Jahr. Erstens bezweifelt Wöhler, „ob man das Gequatsche nennen muß“. Zweitens versichert Wöhler, „daß gar nicht durchgehend gesprochen wird“, woher denn, das gehe schon aus arbeitstechnischen Gründen nicht, die Sprecher müßten nebenher auch Gewinne auspacken und verteilen. Drittens: Die Sprecher bekommen gerade eine Sprecherschulung. Erwin Odermatt, erfahrener Funkmoderator, lehrt die Jungen klar, deutlich und nicht zu laut sprechen. Damit sie im Eifer „nicht vergessen, daß sie ein Mikrofon vor dem Mund haben“. Und, um auch „die Aggressivität herauszunehmen“, die evtl. noch aus den Lautsprechern schallt – „wir wollen die Leute ja nicht verschrecken.“
Doch die Tombola-Optimierung geht noch weiter. Sauer stießen Rebers die Klagen aus dem Ortsamt Mitte auf. Amtsleiter Robert Bücking hält das fröhliche Treiben nämlich für „eine Art akustischer Geiselnahme der Passanten“. In der Weihnachtszeit faßte das Stadtteilgremium den Beschluß, den Tombola-Animateuren pro Stunde nur noch 30 Minuten Redezeit zu gestatten. Undenkbar für die Gegenseite. „Wenn wir nur eine Stunde Pause machen, sinken sofort die Losverkäufe“, hat Rebers ermittelt. Keine Lose – keine Gewinne – keine neuen Eichen im Bürgerpark.
Das Stadtamt mußte vermitteln. Nach intensiven Beratungen fand man einen Kompromiß: Die Tombola findet nun erstmals unter wissenschaftlicher Begleitung statt, um bei minimalem Lärmpegel maximalen Verkauf zu sichern. Das Uni-Institut für Psychologie, Methodik, Diagnostik und Evaluation (Abt. Psychologie und Marketing) blickt nun 94 Tage lang kritisch auf das Tombolageschehen. Eine Auswertung soll folgen, die dann mit Wöhlers Team durchgegangen wird. Dem psychologisch feinabgestimmten Losverkauf soll nichts mehr im Wege stehen. Selbst das Ortsamt nicht: „Es gibt im Moment doch Wichtigeres zu tun“, seufzt Bücking.
Wer dennoch meint, der muntere Singsang der Marktschreier raube ihm den letzten Nerv – für den hält Wöhler eine Nörgel-Hotline bereit. Einfach 32 36 66 wählen, Wöhlers Büro in der Baumwollbörse – schon werden die Phonzahlen gesenkt. Wer aber hartnäckig auf völliger Ruhe besteht: Der braucht einfach, so schließt sich segensreich der Kreis, zwei Mark für ein Tombolalos locker zu machen, den nächsten Dampfer zu besteigen und sich in der Zwei-Bett-Außenkabine nach Spitzbergen zu trollen, bis die tollen 94 Tage vorbei sind. tw
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