Wolle muß weg

Während der Kälte sind die Notunterkünfte für obdachlose Männer überfüllt: Die wenigen Räume sind eng, die Männer nerven sich gegenseitig. Alkoholismus, Pöbeleien und Verdächtigungen sind die Regel. Außenseiter haben kaum eine Chance, und Solidarität gibt es schon gar nicht. Wer der Gruppe nicht paßt, „nicht funktioniert“, fliegt raus auf die Straße; fast wie im normalen Leben  ■ Von Tim Köhler

Abends um halb sieben stehen die ersten vor der Tür. Sie frieren. Wolle ist schon oben. Jemand ließ ihn früher rein. Er ist dabei, sich die Haare abzuschneiden. Mit Einwegrasierern aus Plastik reißt er sich an mehreren Stellen die Kopfhaut auf. Sein Kopf ist blutverschmiert. An die Haare hinten kommt er nicht heran. Blind schabt er sich den Nacken. Wolle ist sichtlich aufgeregt und spricht unverständliches Zeug. Es geht um türkische Rauschgiftdealer, die ihn verfolgen, weil er wohl einige von ihnen hochgehen ließ.

Die anderen Männer sind sauer und schießen böse Blicke ab in das belegte Badezimmer, das Wolle ihrer Ansicht nach verdreckt. Sie schütteln den Kopf. Seit drei Tagen dulden sie „den Verrückten“ nur unwillig. Wolle fuchtelt mit den Armen. Er will ja saubermachen. Aber je öfter er wischt, desto mehr blutverschmierte Haare verteilt er. Er verwendet viel zuviel Putzmittel, der ganze Boden schäumt.

Ein Betreuer hilft Wolle. Auf die fertige Glatze schmiert er sich eine halbe Tube Fettcreme. Mit seinem knochigen Gesicht sieht Wolle jetzt aus wie ein Gespenst. Immer noch fabuliert er von den Dealern. Er habe keine Angst vor ihnen. Sicherheitshalber will er sich aber einen Stock im Rücken unterm Hemd versenken.

Den ganzen Abend wird Wolle von den anderen Männern beobachtet. Martin sieht ganz angewidert zu, wie der Kahlkopf drei riesige Teller mit Essen leer putzt. Dabei drückt er einen halben Liter Ketchup auf das Schweinefleisch. Das provoziert nicht nur Martin. Dabei begann das Abendessen ganz lustig. Bruno steckte sich genüßlich eine selbstgedrehte Zigarette an: „Jede schmeckt anders. Blöd ist nur, wenn bei den Stummeln eins von diesen Mentholdingern dabei ist.“ Einige schmunzelten über den Geschmackstester.

Heinz hatte gekocht. Um ihn herum lief Günther dienerhaft, wischte danach den Tisch ab, trug jeden Teller einzeln in die Küche. Hat er Angst vor Heinz? Es herrscht hier eine schwer durchschaubare Hierarchie. Und eine unberechenbare Dynamik dazu.

Einige haben wieder zuviel getrunken. Edmund redet ununterbrochen, wenn er mit Alkohol abgefüllt ist. Aber es ist ein Fehler, auf das eigene Geschwätz nicht zu achten, denn es erzeugt heftige Reaktionen. Plötzlich steht Martin auf, selbst angetrunken wie immer am Dienstag – jeder hier hat Trinktage und alkoholfreie Tage. Wuchtig, aggressiv und mit lauter Stimme geht er auf Edmund los. Eine Schlägerei droht. Es kommt zum Tumult. Martins Kumpel wirft sich dazwischen und bremst ihn, redet beruhigend auf ihn ein. Die Sache ist gerade noch mal gutgegangen.

Alle sind aufgeregt. „Das kannste nicht machen, so was rumerzählen“, wird Edmund zurechtgewiesen. In seinem Geplapper erwähnte er, daß Martin eine Frau totgeschlagen hat. Deshalb war er sieben Jahre im Knast: im Ostknast, als Stubenältester. Was das bedeute, könne sich jeder denken, droht Martin. Von so einem wie Edmund lasse er sich jedenfalls nicht provozieren und kommandieren schon gar nicht.

Jetzt fängt Edmund an zu weinen und geht. Vorher sagt er noch: „Ich bin ein alter Sack. Was soll ich tun? Ich bin zwar am Ende, aber ich höre alles. Ich gehe so durch die Welt. Kann ich da ruhig sein?“ Er kündigt an, nie wieder zu kommen. Am nächsten Tag kommt Edmund natürlich wieder. Mit Martin kommt er wieder gut aus – so, als sei nichts gewesen.

Nicht so mit Wolle, „dem Verrückten“. Er wird ausgegrenzt. Die Männer wollen, daß er verschwindet. Er wird beschuldigt, nachts den Kühlschrank auszuräumen. Später im Betreuerraum, die Atmosphäre entspannt sich langsam, erzählt Bruno etwas von sich. Seine Augen verschwimmen, als er beginnt. Stockend sagt er, es könne jedem passieren, auf der Straße zu landen. Er lebe seit vier Jahren dort. Früher, ja früher habe er das nie für möglich gehalten. Am meisten an dem Verrückten ärgere ihn, daß er gar nichts mehr geregelt kriege. Man müsse sauber bleiben, man dürfe sich nicht so gehenlassen. Dabei ist Wolle gar nicht schmutzig. Es weiß nur niemand, was sein Problem ist. Er trauert nicht wie die meisten anderen um den Verlust von Arbeit und Familie. Er ist anders. Er verkompliziert das Elend. Deshalb muß er weg.

Plötzlich steht ein großer schwarzer Mann in dem kleinen Raum. Er trägt einen langen Trenchcoat, darunter Hemd und Krawatte. Was sucht ein solch eleganter Reisender in einer schäbigen Notübernachtung für Obdachlose? Er sagt, er komme aus Kamerun und habe einige Probleme, deren Lösung zwei bis drei Wochen erfordere. Das Rote Kreuz habe ihn hierhergeschickt. Ob er bleiben könne? Dahinter drängt sich ein ganz junger verwahrloster Mann. Vielleicht ein Junkie. Bruno sieht angewidert auf die beiden Neuen.

Die meisten Obdachlosen sind krank. Entweder alkoholkrank, magenkrank oder herzkrank. Natürlich weiß niemand, was vorher da war, die Obdachlosigkeit oder die Krankheit. Beides bedingt einander, und es wird immer schwieriger, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten.

Obdachlose interessieren sich in der Regel nicht für die Probleme anderer. Sie haben selbst genug Schwierigkeiten. Am meisten leiden sie am verletzten Stolz: Verlust der Arbeit, Verlust von Frau und Kindern – manche dürfen sie nicht einmal mehr sehen –, Verlust von Freunden, von Gewohnheiten. Der verletzte Stolz macht die Männer erst recht stolz. So stolz, daß sie manchmal keine Hilfe mehr annehmen wollen, nicht einmal mehr Geld. (Es gibt wirklich Männer, die holen sich die ihnen zustehende Sozialhilfe oder Rente nicht ab.) Es wird gejammert.

Um etwas Ruhe zu finden, trinken die meisten. Der verletzte Stolz wird kompensiert: Leute, die noch weiter unten sind, werden verdrängt. Gerade auf der Straße gibt es sie. Ausländer, vor allem Polen und Farbige, psychisch Kranke, Junkies.

Je voller die Unterkunft belegt ist, desto ungemütlicher wird es. Das Bad ist nahezu immer belegt. Nachts gibt es keine Ruhe. „Von mir könnt ihr nicht verlangen, daß ich den anderen sage, daß hier noch Plätze frei sind. Mir ist es recht so. Ist doch viel gemütlicher hier. Hinterher kommen hier noch Polen her, und dann ist es ganz aus. Soviel kannst du nicht unter dein Kopfkissen stecken, wie die klauen“, sagt ein Obdachloser.

In der Notunterkunft gibt es keine Solidarität. Die Obdachlosigkeit wird von den Männern nicht einmal als gemeinsames Problem diskutiert. Jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt und mißtraut dem anderen. Jeder hofft für sich, wieder „in die Normalität reinspringen zu können“. Obdachlosigkeit ist keine Identität, sondern ein zersetzender Zustand.

Sie macht den Menschen roh und egoistisch. Obdachlose sind keine Nonkonformisten, sondern gescheiterte Spießer, die durch ihr Scheitern zu noch unangenehmeren Spießern werden.

Im Betreuerraum gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man den obdachlosen Männern begegnet, wenn sie betrunken sind und dann aggressiv werden. Einer im Betreuerteam, ein Medizinstudent, wirft in fast jeder Schicht einen Mann hinaus. Er argumentiert folgendermaßen: Indem du den Betrunkenen vor die Tür setzt, hilfst du ihm, weil du ihm seine Restverantwortung für sein Verhalten beläßt. Du machst ihn nicht zum Kind. Wenn du ihn immer hineinläßt, selbst wenn er sturzbetrunken ist, kannst du ihn gleich windeln.

Zweitens tust du etwas Gutes für die Gruppe, denn Betrunkene verursachen erfahrungsgemäß Ärger. Läßt man sie nicht herein, bleibt es ruhig. Davon profitieren alle, auch die Betreuer, die auch ein Recht haben auf erträgliche Arbeitsbedingungen.

Dagegen wird argumentiert, daß der Rausschmiß die alltägliche Erfahrung eines jeden Obdachlosen bestätigt, nämlich die Ausgrenzung. Wenn man den Betrunkenen in die Gruppe integriert, dann kann er lernen, daß es auch etwas anderes gibt als den ständigen Kreislauf: Saufen, Strafe, Selbstmitleid, Saufen und so weiter. Außerdem fördert jeder Rausschmiß die Verkrustung der brutalen Hierarchie in der Gruppe. Ihr müssen die Betreuer entgegenwirken, um die Schwachen zu schützen.

Der Medizinstudent: Wenn jeder hereindarf, wird bald immer mehr gesoffen. Dagegen: Die Leute trinken, unabhängig davon, was die Betreuer davon halten. Jeder im Betreuerraum handhabt es anders. Es gibt keine klare Linie im Team – sehr zur Irritation von Martin, der klare Verhältnisse gewöhnt ist und sie immer wieder lauthals fordert.

Martin sorgt für Ordnung. Er teilt die Dienste ein: kochen, abwaschen, saugen, Bad putzen, Frühstück machen. Alle 15 Mann müssen etwas tun. Er behauptet, Wolle erfülle seine ihm aufgetragenen Dienste nicht. Er fordert von ihm zu verschwinden. Von den Männern widerspricht niemand. „Das hier ist eine Notübernachtung für Obdachlose! Du kannst nicht jemanden rausschmeißen in die Kälte, weil er nicht so funktioniert!“ hält ihm ein Betreuer entgegen. Er macht sich damit unbeliebt. Am nächsten Tag sind andere Betreuer da. Am übernächsten Tag kommt Wolle nicht mehr.

Der Autor ist Mitarbeiter in einer Notunterkunft