Realpolitik und radikale Pose

Für die stärkste Oppositionsfraktion PDS ist eine Regierungsbeteiligung kein Thema, aber alle diskutieren darüber. Gesine Lötzsch hat gute Chancen, als Parlamentsvize gewählt zu werden  ■ Von Christoph Seils

Einhundert Tage sind inzwischen vergangen, seit die PDS am 22. Oktober mit 34 Abgeordneten als drittstärkste Partei ins Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Viel hat sich seitdem noch nicht getan. In den Fraktionsräumen stehen noch die Umzugskartons herum. Erst in den letzten Tagen hat die FDP ihre Büros geräumt. Die Newcomer unter den Demokratischen Sozialisten haben noch Mühe, sich in den heiligen, aber verwinkelten Hallen des Abgeordnetenhauses zurechtzufinden. Die politischen Schwerpunkte für die parlamentarische Arbeit allerdings sind festgelegt, die neuen Mitarbeiter eingestellt, die Sitze in den Ausschüssen verteilt.

Die Stärken und Schwächen der Fraktion sind dabei nicht zu übersehen. In der Sozialpolitik drängeln sich die PDS-Abgeordneten genauso wie in den Politikfeldern Bauen und Stadtentwicklung. In der Innen-, Finanz- und Rechtspolitik hingegen ist das politische Personal der Demokratischen Sozialisten dünn gesät. Einen Haushaltsexperten kann die PDS-Fraktion nicht vorweisen; dabei wird die Finanzsituation in den kommenden Jahren das bestimmende Thema in der Stadt sein.

Keine Gelegenheit läßt die PDS aus, um die Anpassung der Ostlöhne an den Westen zu fordern. In der Fraktion allerdings ist tarifliche Bezahlung ein Fremdwort. Die Mitarbeiter seien damit einverstanden, so heißt es, dafür seien alle Mitarbeiter aus der letzten Legislaturperiode wiedereingestellt worden. Bis auf einen, Biblab Basu. Die Gründe wurden dem einzigen Emigranten unter den Fraktionsmitarbeitern der „Anti- Rassismus-Partei“ PDS nicht mitgeteilt.

Jetzt, wo der Senat steht, beginnt auch für die personell stärkste Oppositionskraft der Ernst des parlamentarischen Lebens. Jeden Dienstag um 13 Uhr treffen sich die PDS-Abgeordneten zur Fraktionssitzung. Natürlich steht die Auswertung der letzten Abgeordnetenhaussitzung ganz oben auf der Tagesordnung. Es sei deutlich geworden, so zieht der Fraktionsvorsitzende Harald Wolf ganz messerscharf Bilanz, „daß die Große Koalition kein Projekt anzubieten hat“. Die PDS will der Großen Koalition jetzt kräftig einheizen. Die Volksabstimmung über die Länderfusion, der Protest gegen den „Sozialabbau“ und alternative Verkehrskonzepte sollen laut Harald Wolf dabei den Schwerpunkt bilden. Ziel der PDS sei es, die Konflikte innerhalb der Großen Koalition zuzuspitzen und die SPD zumindest in Einzelfällen aus der Koalitionsdisziplin herauszulösen. Die PDS wird nicht müde, sich als Partner für „Haushaltskonsolidierung“ durch eine „sozial und ökologisch orientierte Reformpolitik“ anzubieten. Vor allem aber mit „außerparlamentarischen Aktionen“ will man dem Senat einheizen. Eigene Sparvorschläge hingegen muß die PDS- Fraktion erst noch ausarbeiten.

Völlig neue Töne haben die Demokratischen Sozialisten von der neuen Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD) vernommen. Sie will der PDS- Fraktion einen Besuch abstatten, um mit ihr über die Lösung der Haushaltsprobleme der Stadt zu diskutieren. Ein Novum in der Geschichte des Abgeordnetenhauses. Noch nie zuvor hat ein Senator oder eine Senatorin sich in die Reihen oder die Büros der PDS verirrt. Doch die Anregung des Abgeordneten Kaczmarcyk, nun auch die anderen neuen Senatoren einzuladen, weisen seine Fraktionskollegen empört zurück. „Den General“, so sagt Benjamin Hoff, „den wollen wir hier nicht.“

Sie seien nicht als „Polit- Clowns“ gewählt worden, mahnte das Neue Deutschland in der vergangenen Woche die Abgeordneten der PDS zu mehr „Würde“ gegenüber dem Parlament. Mit dem Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ hatte der jüngste Abgeordnete des Abgeordnetenhauses und Totalverweigerer Benjamin Hoff in einer persönlichen Erklärung die Wahl des neuen Innensenators kommentiert. Fast zur selben Zeit versuchte der PDS-Abgeordnete Freke Over mit dem Einsatz seines ganzen Körpers die Räumung der Tribüne von protestierenden Zuhörern zu verhindern. Es ist unübersehbar: Nicht allen Fraktionskollegen gefällt dieses Verständnis von Parlamentarismus. Auch wenn nicht wenige PDS-Abgeordnete dem Kommentar des Neuen Deutschland zustimmen, wird die Kritik in den eigenen Reihen in abgewogene Worte gefaßt. Die Auseinandersetzungen auf der Tribüne und die Redebeiträge seien „zu populistisch“ und nicht „an der Sache orientiert“, so formuliert es der Fraktionsvorsitzende Harald Wolf. „Triumph der radikalen Pose“, empört sich ein Mitarbeiter der Fraktion über die Aktionen der beiden Jungparlamentarier.

Freke Over hat registriert, daß die Zustimmung zu der Aktion bei den Bündnisgrünen größer war als bei der eigenen „ehemals staatstragenden“ Partei. Doch der Ex-Autonome kündigt schon jetzt weitere Sponti-Einlagen im Parlament an. „Ich bin für eine bestimmte Szene ins Abgeordnetenhaus gewählt worden“, erklärt er seinen Fraktionskollegen. Dort würden solche Provokationen von ihm erwartet. Aber, so ermahnt ihn die Abgeordnete Edith Udhardt, er möge aufpassen, daß so nicht die „Arbeitsfähigkeit“ der Fraktion gefährdet werde.

Natürlich widmet sich die PDS- Fraktion auch den Ergebnissen des Magdeburger Parteitages. Brüskiert weist Petra Pau in der Fraktionssitzung die Schlagzeile der Bingo-BZ zurück, die am Montag die Landesvorsitzende mit den Worten „in vier, fünf Jahren regieren wir Berlin“ wiedergegeben hatte. Regierungsbeteiligungen stünden nicht auf der Tagesordnung, zieht sie sich auf die Argumentationslinie derjenigen in der PDS zurück, die gern mitregieren würden, es aber noch nicht laut sagen. „Medienprodukt“ nennt sie die Debatte, dabei steht auch die Fraktion schon mitten in der Diskussion, zumindest außerhalb der Tagesordnung.

Die Rollen in dem Streit sind längst verteilt. Petra Pau will in dieser Frage jetzt keine Position beziehen, aber in „vier, fünf Jahren können wir vor dieser Frage stehen“. Harald Wolf träumt weiter von der bedingungslosen Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung. Er will sich bei der Ablösung der Großen Koalition am Magdeburger Modell orientieren. Doch alle Modelle einer bedingungslosen Tolerierung hält die mögliche Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Gesine Lötzsch, für „Quatsch“: „Wir verkaufen uns doch nicht unter Wert.“ Und Benjamin Hoff gibt sich entsetzt darüber, daß ausgerechnet der ehemalige Autonome Freke Over den Eintritt der PDS in eine Landesregierung „auf Dauer“ für nicht verhinderbar hält.

Dabei wäre in den letzten Wochen beinahe das Weltbild der Genossen aus den Fugen geraten, weil die CDU-Fraktion die PDS-Kandidatin für den Posten der Parlamentsvize, Gesine Lötzsch, eingeladen hatte. Doch dann nahm die CDU-Fraktion die erstbeste Gelegenheit zum Anlaß, Lötzsch die Qualifikation zum Vizepräsidentenamt wieder abzusprechen und die Einladung zu widerrufen. Weil Gesine Lötzsch die Stahlhelm-Aktion der Bündnisgrünen im Plenum des Parlaments anläßlich der Vereidigung von Innensenator Jörg Schönbohm mit Beifall bedacht hat, ist sie nach Ansicht des CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus-Rüdiger Landowsky nicht mehr würdig, das Amt der Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses einzunehmen. Doch die Genossin Lötzsch trägt es mit Fassung, denn dafür darf sie sich jetzt bei der SPD vorstellen. Für die Sozialdemokraten steht der Anspruch der PDS-Fraktion auf das Vizepräsidentenamt weiterhin nicht in Frage. Eine Mehrheit für Gesine Lötzsch scheint am 29. Februar gesichert.