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Die Übernahme

■ Zähneknirschend stimmt die Belegschaft der Pariser "Liberation" ihrer Entmachtung durch einen Konzern zu

„Wir haben keine Wahl“, sagt Jean Hatzfeld. Viel lieber wäre es dem langjährigen Auslandsreporter von Libération, er müßte nicht für die Übernahme stimmen, die den Industriekonzern Chargeurs zum 66 Prozent starken Hauptaktionär des einstigen journalistischen Flaggschiffs der französischen Linken macht. Hatzfeld zitiert ein Beispiel aus der Frühzeit des 1973 gegründeten Blattes; da entschied das Kollektiv erst nach langer Diskussion, überhaupt Anzeigen aufzunehmen.

Doch seither hat sich die Situation radikal geändert. Nicht nur weil das Kollektiv längst Geschichte ist, sondern vor allem weil Libération heute nach teueren Fehlinvestitionen – die Auflage stagniert bei 170.000 – vor dem Konkurs steht und weit und breit kein anderer Kapitalgeber in Sicht ist, der bereit wäre, die Zeitung zu sanieren.

Zähneknirschend willigte am Montag die Belegschaft, die bisher über eine 42prozentige Sperrminorität in der Aktiengesellschaft verfügte, mit großer Mehrheit in ihre Entmachtung ein. Künftig wird sie nur noch 20 Prozent der Aktien halten. Ein gleichzeitig angenommener „Pakt für Unabhängigkeit“ garantiert ihr dann noch eine begrenzte Veto-Möglichkeit bei der Einsetzung des Chefredakteurs. Zusätzlich sollen von den derzeit 382 Angestellten in den nächsten zwei Monaten 65 das Unternehmen verlassen – wobei hohe Abfindungen den freiwilligen Ausstieg fördern sollen.

Der Textilkonzern im Mediengeschäft

Der französische Mischkonzern Chargeurs mausert sich mit dem Coup zu einem bedeutsamen Faktor in der Medienbranche, wo das Unternehmen bisher schon Beteiligungen an TV-Sendern (Sky-TV und Canalsatellite), die Filmproduktion „Renn“ und Kinos hielt. Stärkstes Engagement von Chargeurs bleiben jedoch die Textilien – besonders die Wolle, wo Chargeurs eine der Weltgrößen ist – sowie die See- und Luftfahrt.

Die bevorstehende Entscheidung war bei Libé in der Pariser rue Beranger wochenlang Diskussionsgegenstand Nummer eins. Im Dezember hatte die Belegschaft einen Tag lang gegen die Übernahme, die Chefredakteur Serge July eingefädelt und empfohlen hatte, gestreikt. Es folgten ein einwöchiger symbolischer Boykott – die Autoren zeichneten ihre Artikel nicht namentlich –, abendfüllende Vollversammlungen, dringende Krisensitzungen und eine Flut interner Papiere.

In dem ehemaligen schneckenhausförmigen Parkhaus, das Libé umfunktioniert hat, ist jeder freie Wandplatz beklebt. „Enthaltung“ forderte die kommunistische Gewerkschaft CGT für die Abstimmung am Montag. Eine „Maskerade“ nannte die sozialistische Gewerkschaft CFDT die Übernahmeprozedur. Ein Mitarbeiter bezeichnet den „Pakt“ als zufriedenstellend, weil er „uns vor dem Konkurs rettet“.

Für Christian Poulin, der in der kollektivistischen Frühzeit zu Libé gestoßen ist, endet ein Kapitel seines Lebens. Er wird aussteigen, die Entschädigung mitnehmen und anderswo „ein ganz normaler Angestellter“ werden, bevor er in Libé einen „Patron“ vorgesetzt bekommt. Der Maoist hatte 1975 die Fotoredaktion von Libé aufgebaut und war später in die EDV gewechselt.

Das Kollektiv war in jenen Anfangsjahren klein – 60 bis 80 Personen machten das Blatt, das 1979 eines der Vorbilder für die taz war. Feste Regeln für den Umgang gab es nicht, die Arbeitsbeziehungen ergaben sich einfach, naturwüchsig. Wer ein Problem mit seinem Computer hatte, sagte einfach: „Christian, kannste mal?“ Poulin fühlte sich wohl in jener Atmosphäre der Gleichen. Heute sind es nicht einmal die unterschiedlichen Löhne, die ihn mißstimmen, sondern die Heimlichtuerei und das Mißtrauen, die sich eingeschlichen haben. Statt der alten Transparenz, wo die Löhne öffentlich ausgehängt waren, weiß heute niemand mehr, welche Sonderzulagen und Naturalien der Kollege bekommt. Es ist auch nicht die Hierarchie an sich, die Poulin stört, sondern die Bürokratisierung, die damit einhergehe.

Und als Hauptfehler nennt er die Konzentration auf eine einzige Person. Serge July, Gründer und ewiger Chef, treffe heute einsame Entscheidungen von der Spitze aus. Die Zeitung an sich, darin sind sich die meisten Libé-Leute nach wie vor einig, ist immer noch wertvoll – auch wenn der subversive Ton der frühen Jahre geschwunden ist und Libé heute keine politischen Kampagnen mehr macht.

Große Investitionen, die nichts brachten

Was Libé teuer zu stehen kam, sind ihre großen Projekte. Ein Radiosender Anfang der achtziger Jahre, der nie zustande kam, obwohl Millionen in seine Entwicklung gesteckt wurden. Die Lyoner Lokalausgabe, die ganz unbescheiden mit 16 Seiten und 50 neuen Mitarbeitern begann, um bald darauf in der Versenkung zu verschwinden. Und – zuletzt und am fatalsten – die Blattreform vom Herbst 1994. Damals verdoppelte Libé ihre Seitenzahl, machte eine illustrierte Samstagsbeilage, druckte mehrfarbig und stockte das Personal um über 100 Leute auf, um „eine Zeitung wie die New York Times“ (July) zu werden. Mehrere Monate später und viele Millionen Franc ärmer zog er das Projekt kleinlaut zurück.

Auch Jean Hatzfeld hält es für den großen Fehler. Er gehört ebenfalls zu den Libé-Mitarbeitern der ersten Stunden. Vor 17 Jahren kam er, um „eine andere Sportberichterstattung“ zu machen, heute schreibt er vor allem über Bosnien. Die ersten Jahre erinnert er als „wunderbar“, aber eine Sehnsucht zurück verspürt er nicht. Fast alle radikalen Umwälzungen in Libé erscheinen ihm im Rückblick logisch und notwendig. Heute könnte der prominente Reporter problemlos in ein anderes Blatt wechseln. Aber er hat nein gesagt. Für ihn bleibt Libé etwas Besonderes. Trotz allem. Dorothea Hahn, Paris

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