Im Kunstgriff verweht

Hauptsache Lesevergnügen: Ingo Schulzes „33 Augenblicke des Glücks“ kommt Conaisseuren entgegen. Zeigt her eure Stile, zeigt her eure Tricks!  ■ Von Jörg Plath

Eine Geschichte, die der Literaturbetrieb schrieb: Ein junger Mann, der bislang mit Ausnahme von Zeitungsartikeln nichts veröffentlicht hat, schickt seine Erzählungen mit einer Empfehlung von Durs Grünbein an einen guten Verlag und erhält nicht nur einen Vertrag, sondern noch vor Erscheinen des Erstlings auch den Alfred-Döblin-Förderpreis 1995.

Ingo Schulze heißt der junge Mann, 1962 in Dresden geboren, und seine nicht eben alltägliche Erfolgsgeschichte könnte dem eigenen Debütband „33 Augenblicke des Glücks“ entsprungen sein. Denn die recht unterschiedlichen 33 Erzählungen, die sämtlich in Sankt Petersburg und Umgebung spielen, eint der Einbruch des Unwahrscheinlichen, Mystischen, Phantastischen.

Schulze erzählt von westlichen Geschäftsleuten im gegenwärtigen Rußland, von einer Schießerei unter Mafiosi, von dem sentimentalen Auftritt eines Dissidenten oder der Vernissage eines Künstlers. In der Erzählung von der Kellnerin, die einem sterbenden Bettler auf offener Straße einen letzten Geschlechtsverkehr schenkt, noch halbnackt von der umstehenden Menge erst zur Heiligen erklärt und dann im Triumph geschultert wird, verknüpfen sich die häufigsten Ingredienzien Tod, Eros und Mystik. Schulzes Petersburg ist das Treibhaus üppig sprießender Illusionen, und der Autor macht es sich zur Aufgabe, sie wahr werden zu lassen. Einer verarmten Mutter, die sich um des Überlebens willen schon schweren Herzens gezwungen sah, ihre heranwachsende Tochter auf den Strich zu schicken, schickt er einen reichen Amerikaner. Dieser heiratet das Mädchen, und als sie stirbt, wiederholt sich das amerikanische Glück mit der zweiten Tochter – und nach deren Tod mit der dritten.

„Frauen wie Maria“, so beginnt eine andere Erzählung, „begegnet man nur in Illustrierten und Werbespots.“ Oder eben am Anfang des Erzählungsbandes von Ingo Schulze. Maria ist schön, weiß über Nabokovs „Lolita“, Puschkin und Brodsky zu plaudern, und ihre Arbeit versieht die Prostituierte mit dem Namen der Gottesmutter wie eine Verliebte. Was braucht es also mehr zu einem von „33 Augenblicken des Glücks“?

Schulze scheint zum einzigen Maßstab des Erzählens das Lesevergnügen erhoben zu haben. Er spielt mit Gattungen und Genres, läßt Märchen, Krimi, Science-fiction, Reportage und Reiseerzählung anklingen, benutzt versiert innere Monologe und filmische Dialoge, weiß zum rechten Zeitpunkt zwischen Spannung und Elegie zu wechseln oder der Tragik eines Endes durch einen Perspektivenwechsel die Spitze zu nehmen – und dann war alles doch nur ein Traumgespinst.

Allerdings mündet die Vielfalt der erzählerischen Mittel stets in geradlinige Erzählungen, deren Inhalt meist ausgesprochen trivial ist: Die Nacherzählung – siehe oben – verwandelt sie in Schmonzetten. Schulzes Vorliebe für das Unwahrscheinliche wärmt sich vorzugsweise an Trivialitäten und Klischees. Doch die großen Gefühle, die sich einst an die Klischees hefteten, schrumpfen unter seinem ironischen Zugriff zu kleinen Augenblicken des Glücks und verwehen spurenlos mit ihnen. Da lustwandelt ein Eklektizist im Magazin der Literatur, liest Populäres wie Hochkulturelles auf, probiert hier und da sein Handwerkszeug aus – und erweist sich als leichthändiger, überaus unterhaltender Erzähler.

Nur scheinbar knüpft der junge Autor an das Rußlandbild des 19. und 20. Jahrhunderts an, jenes abgründig-ekstatische, dionysische Rußland, das dem gemäßigten, apollinischen Westeuropa als Gefahr und Heil erschien. Der Stadt Petersburg verleiht Schulze, der sich nach Tätigkeiten als Dramaturg und Journalist 1993 im Auftrag einer Anzeigenzeitung tatsächlich ein halbes Jahr in Petersburg aufhielt, kein Gesicht.

Ein Kunstgriff legt Schulzes verkleinernden Umgang mit überkommenen Bedeutungen und die Reflektiertheit seiner Erzählweise offen. Der Autor schlüpft in die Rolle eines Herausgebers der 33 Erzählungen, die, so behauptet sein Vorwort, Aufzeichnungen eines in Petersburg verschollenen Literaturliebhabers und deutschen Zeitungsangestellten namens Hofmann seien. In „Ausgewählte Anmerkungen“ weist der Herausgeber auf Zitate und Motive dieser spielerischen „Hofmanns Erzählungen“ aus der russischen Literatur von Anton Tschechow über Daniil Charms bis zu Michail Bulgakow hin. Schulze versteckt seine Arbeit ironisch hinter der des „Autors“, um dann dessen Karten aufzudecken.

Dieser Zauber erfüllt uns also einen alten Kindheitstraum: Er zeigt seine Tricks. Nur einen verhehlt er sowohl den Connaisseurs der Literaturgeschichte als auch den stillen Liebhabern des gut erzählten Unterhaltenden – jenen, aus dem das ganze Vergnügen erst erwächst: wie er denn aus all diesen Büchern das eine gemacht hat.

Ingo Schulze: „33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter“. Berlin Verlag, Berlin 1995, 272 Seiten, 36DM