Das Theater der grünen Kasper

In Hessen stellten die Grünen ihren ersten Minister, dort erzielten sie ihr bislang bestes Wahlergebnis in einem Flächenland. Doch mit dem Erfolg kamen Eifersucht und Eitelkeit, Filz und Versorgungsmentalität; die Landtagsfraktion ist zerstritten, eine Ministerin mußte bereits ihren Hut nehmen. In Hessen sind die Grünen mittlerweile eine ganz normale Partei  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Alexander Müller (40) rauft sich mit beiden Händen die halblangen Haare. „Ich weiß auch, daß wir nach den skandalösen Vorfällen der letzten Monate mit dem Rücken an der Wand stehen.“ Vor drei Wochen hat er den „alten Fritz“ Hertle (54) an der Spitze der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen abgelöst. Mit acht zu sechs Stimmen wurde Müller gewählt, keine sonderlich solide Basis, um den Rücken wieder freizubekommen. Erst eine Attacke der CDU eint die Fraktion hinter ihrem neuen Vorsitzenden: Weil die beiden Grünen-Minister den Fraktionsvorsitzenden mitgewählt haben, moniert die Oppositionspartei das Ergebnis. Eine Nachwahl an diesem Dienstag verschafft Müller eine satte Mehrheit von zwölf Stimmen.

Lehren müßten gezogen werden aus den „Kapriolen“ der Vergangenheit, sagt Müller. Kapriolen? Eine bündnisgrüne Ministerin (Iris Blaul) trat entnervt zurück. Ein bündnisgrüner Staatssekretär (Johannes Schädler) wurde von einem bündnisgrünen Minister entlassen. Ein bündnisgrüner Fraktionsvorsitzender (Fritz Hertle) warf nach monatelangen Grabenkämpfen das Handtuch. „Dallas“ in Wiesbaden. Und mehr als nur eine Handvoll „Dollar“, nämlich exakt 17.000 Mark, wurden dem ehemaligen Büroleiter im alten Sozialministerium von Iris Blaul für einen schlichten Umzug von Oberursel nach Dreieich in den Rachen geworfen – vom damaligen Staatssekretär Alexander Müller.

Eine „Eselei“, sagt Müller heute, sei das deshalb gewesen, weil er den dubiosen Vorgang an sich gezogen habe, um gegen die Höhe der von Büroleiter Zahn (Ex-Bündnisgrüne) geltend gemachten Umzugskosten zu intervenieren. Doch dienst- und beamtenrechtlich sei der unverschämte Griff von Zahn in die Staatskasse nicht zu beanstanden gewesen. Der Staatssekretär Müller mußte den Antrag genehmigen. Nicht nur für die Union waren die Bündnisgrünen damit „von Fundis zu Pfründis“ verkommen.

Um die sich zuspitzenden Verhältnisse in Wiesbaden habe sich im vergangenen Jahr „keine Sau mehr gekümmert“, resümiert Müller. Daß es Fritz Hertle als Fraktionsvorsitzender versäumt habe, die für die Partei überlebensnotwendigen Kommunikationsstrukturen nach den Landtagswahlen wiederaufzubauen, sei ihm persönlich als Fehler angerechnet worden. Müller: „Es ging uns bei unserer Kritik an Hertle nicht um eine härtere Gangart des Fraktionsvorsitzenden gegenüber der Opposition oder der SPD. Es ging uns darum, die festgefahrenen Verhältnisse in der Fraktion aufzubrechen und einen Neuanfang auch personell zu erzwingen.“ Hertle kapitulierte. Eine solche Situation, in der ihm permanent und offen das Mißtrauen ausgesprochen wurde, habe er nicht aussitzen wollen.

„Generationswechsel“ nannten Müller und Priska Hinz ihre Wahl in den Fraktionsvorstand. Zehn Jahre nach der Vereidigung von Joschka Fischer zum Umweltminister des Landes durch Ministerpräsident Holger Börner (SPD) im Dezember 1985 stehen die Bündnisgrünen in Hessen am Scheideweg. Noch eine Chance für einen „Neuanfang“, so Müller und Hinz übereinstimmend, werde es nicht geben. Das sieht auch Justiz- und Europaminister Rupert von Plottnitz (55) so, der allerdings den von Müller und Hinz propagierten „Generationswechsel“ relativierte. Schließlich sei der 40jährige Müller auch schon „Jungsenior“. Erste Aufgabe von Müller sei es, die divergierenden Kräfte innerhalb der Fraktion wieder zusammenzuführen. Die „Kasper“, gemeint sind die ganz jungen Abgeordneten aus den Reihen der Bündnisgrünen, seien zu integrieren. Und die abgeklärten, satten „Altparlamentarier“ zu reaktivieren. Danach habe dann die Fraktionsspitze die Pflicht, zusammen mit ihm und Margarethe Nimsch verlorengegangene Glaubwürdigkeit und auch politisches Terrain zurückzuerobern.

Daß das in Zeiten knapper Kassen, sozialer und gesellschaftlicher Spannungen nicht leicht werden wird, weiß Rupert von Plottnitz. Allerdings hätten die Bündnisgrünen nach wie vor die Chance, sich weiter als die Partei zu profilieren, die sich für soziale Gerechtigkeit und den Ausbau demokratischer Rechte einsetzt, ohne dafür den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft zu vernachlässigen. In Hessen habe schließlich der Aufstieg der Bündnisgrünen zur drittstärksten parlamentarischen Kraft in Deutschland, zur regierungsfähigen Partei begonnen. Daß bei diesem Aufstieg Trittbrettfahrer auf den grünen Zug aufgesprungen sind, denen die eigene Wohlfahrt wichtiger ist als die der Partei, will der Minister nicht in Abrede stellen.

Der „Prozeß der Etablierung“, so von Plottnitz, habe mit dazu beigetragen, daß sich bei einigen Parteifreunden der Blick auf die eigene Karriere verengte. Und genau das habe bei der Affäre im Superministerium von Iris Blaul mit eine Rolle gespielt.

In der Tat: Der Büroleiter und Lebensgefährte von Iris Blaul, Wenzel Mayer, klebte so lange an seinem hochdotierten Sessel, bis die Verhältnisse eskalierten und die Opposition die Verquickung von privaten mit politischen Interessen in einem bündnisgrünen Ministerium monierte. Und Zahn zockte das Maximum dessen ab, was monetär in der Landeskasse für ihn drin war. „Küchenkabinett“ nannte die Union die Gruppe im Superministerium um Mayer. Und als „Küchenkabinett“, so der gemobbte Schädler, habe sich die Truppe selbst geriert.

Das alles hat verdiente Parteigänger und Aktivisten der Bündnisgrünen vergrätzt. „Denen geht es inzwischen doch auch nur noch um die Kohle“, echauffierte sich einer aus dem bündnisgrünen Fußvolk der Partei in Frankfurt/Main. Andere, wie etwa der ehemalige Landtagsabgeordnete und Ex- Kreisvorständler Jochen Vielhauer, haben längst resigniert und sich zurückgezogen – angewidert von den parteiinternen Macht- und Grabenkämpfen in Wiesbaden und in Frankfurt. Die Altparteien nutzen die Gunst der Stunde und schlagen die Grünen in der Kommunalpolitik aus dem Felde: In Frankfurt, in Darmstadt, in Rüsselsheim spielen die Bündnisgrünen trotz der Erfolge bei den letzten Kommunalwahlen und der Beteiligung an allen Stadtregierungen fast keine Rolle mehr. Nur noch in zwei südhessischen Landkreisen, in Groß-Gerau und Darmstadt- Dieburg, gibt es rot-grüne Koalitionen.

Die Grünen, sagt Rupert von Plottnitz, seien „Kinder der reichen Bundesrepublik Deutschland vor dem Mauerfall“. Und die Grünen seien mit einer „unglaublichen Leichtigkeit“ von Erfolg zu Erfolg geeilt. Jetzt werde die Partei lernen müssen, den veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen und sich weitere Erfolge zu erarbeiten. So einfach sei das – und im Detail doch so kompliziert.