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Aus Mördern Monster machen

Das Mordopfer war fünf Jahre alt, die beiden Täter nicht viel älter. Nun kommen die beiden Jungs aus Chicago in den Normalstrafvollzug – Teil eines neuen Trends im US-Justizwesen  ■ Von Andrea Böhm

Washington (taz) – Ihre Namen bleiben anonym. Trotzdem machen sie Schlagzeilen. Man weiß, daß der eine zwölf Jahre alt und 1,40 Meter groß ist und aus der „Ida B. Wells“-Siedlung kommt, einem der berüchtigtsten Sozialbaughettos in Chicago. Der andere ist dreizehn, Analphabet, mehrfach von zu Hause abgehauen, hat oft wochenlang in Abrißhäusern gewohnt. Vor zwei Jahren warfen die beiden den fünfjährigen Eric Morse aus dem 14. Stock einer Sozialbausiedlung in Chicago, weil er sich geweigert hatte, für sie Süßigkeiten zu stehlen. Die letzten 24 Monate verbrachten beide in der geschlossenen Anstalt des „Illinois Department of Children and Family Services“. Am Montag gab die zuständige Jugendrichterin dem Antrag der Staatsanwaltschaft statt und ließ den Jüngeren in ein Hochsicherheits-, den Älteren in den Normalvollzug für jugendliche Straftäter einweisen. „Wer solche Taten begeht“, sagte Richterin Carol Kelly in ihrer Urteilsbegründung, „der verwirft das Recht, in Freiheit zu leben.“

Die beiden Kinder – nach Angaben von Sozialarbeitern „extrem aggressiv“ und „gemeingefährlich“ – werden dort mindestens fünf Jahre inhaftiert sein. Der Zwölfjährige ist nun der jüngste Strafvollzugsinsasse in den USA. Nach dem Mord an Eric Morse hatte das Parlament des Bundesstaates Illinois, in dem Chicago liegt, das Mindestalter für den Jugendstrafvollzug von dreizehn auf zehn Jahre gesenkt. Man könne hier, so erklärte der demokratische Abgeordnete Jay Hoffmann, der einen entsprechenden Gesetzesantrag mitinitiiert hatte, nicht mehr von Kindern sprechen, sondern von „Raubtieren“ und „abgebrühten Kriminellen“.

Gemäß Anordnung der Richterin muß das Jugendamt jetzt innerhalb von zwei Monaten ein Programm für die psychiatrische Behandlung und Schulbildung der Kinder zusammenstellen. Doch die Realität der Jugendgefängnisse sieht anders aus. Der Ältere der beiden wird nach Angaben seiner Anwältin Michelle Kaplan in einer Haftanstalt mit 263 Insassen und einem Psychiater landen. Die meisten Jugendgefängnisse in Illinois seien überfüllt und zu „Tierfabriken“ verkommen, sagt Marlene Stern, Direktorin des „Citizens' Committee on the Juvenile Justice Court“ in Chicago. Die Bürgerorganisation setzt sich am größten Jugendgericht der USA für die Rechte von Kindern und Jugendlichen ein. Die Anstalten seien überbelegt, für immer mehr Kinder und Teenager hinter Gittern gebe es aufgrund massiver Haushaltskürzungen immer weniger Sozialarbeiter und Psychologen. So „wird das Prinzip der Rehabilitation im Jugendstrafvollzug auf den Müll geworfen“, klagt Stern.

Zu den Vorreitern dabei gehört der republikanische Gouverneur des Bundesstaates Virginia, George Allen. Allen, Verfechter radikaler Kürzungsprogramme im Sozialsektor, präsentierte am Mittwoch mit Abgeordneten beider Parteien eine Gesetzesvorlage, wonach gegen Teenager im Fall von Tötungs- und Vergewaltigungsdelikten in Zukunft nach dem Erwachsenenstrafrecht verhandelt werden soll. Das Mindestalter will der Gouverneur bei 14 Jahren festgelegt wissen. Bislang gilt, daß rechtskräftig verurteilte Teenager laut Jugendstrafrecht spätestens mit 21 Jahren wieder entlassen werden müssen. Nach Allens Plan könnten Jugendliche zu Haftstrafen von zehn Jahren und mehr verurteilt werden. 27 Millionen Dollar sollen nun für den Ausbau eines Jugendgefängnisses ausgegeben werden.

So weit will man in Illinois noch nicht gehen. Die beiden Jungen aus der „Ida B. Wells“-Siedlung kommen spätestens an ihrem 21. Geburtstag wieder auf freien Fuß. Dank einer extrem gewalttätigen Knastkultur habe man es dann, so Marlene Stern, „mit zwei extrem gefährlichen jungen Männern zu tun“. Sein Mandant sei kein Monster, erklärte David Hirschboeck, der Pflichtverteidiger des Zwölfjährigen. „Aber diese Gesellschaft tut nun alles, daß er eines wird.“

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