Die Übermutter Schäferhund

Stoff aus der Wirklichkeit: Alfred Castros „Geschichte des Blutes“ ist eine Geschichte des Mordens. Fast jede seiner Figuren hat jemanden umgebracht. Ein Gastspiel des Teatro La Memoria aus Chile im Theater am Halleschen Ufer  ■ Von Gerd Hartmann

Der Ausgangspunkt ist programmatisch: Drei Theaterstücke, die authentische Aussagen zur Grundlage haben, Selbstbeschreibungen, Geständnisse. Stoff aus der Wirklichkeit also. „Theater der Erinnerung“ heißt die Gruppe, die mit diesen Materialien experimentiert, und sie kommt aus einem Land, das sich gerade auf einer schwierigen Gratwanderung zwischen Verdrängung und Aufarbeitung einer blutigen Diktatur befindet: Chile.

Memoria bedeutet im Spanischen auch Gedächtnis. Doch mit Dokumentartheater hat das Teatro La Memoria gar nichts am Hut. Die „Geschichte des Blutes“ (Historia de la sangre), der Mittelteil der Triloia Testimonial, mit der es derzeit im Theater am Halleschen Ufer gastiert, nimmt die authentischen Quellen nur als Folie zum Aufspüren eines kollektiven Unterbewußtseins.

Die Geschichte des Blutes ist eine Geschichte des Mordens. Fast jede der sechs seltsamen Gestalten auf der Bühne hat jemanden umgebracht. In Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten sammelte die Gruppe die Aussagen. Doch es geht weder um Einzelschicksale noch um die psychologische Beleuchtung von Beweggründen, es geht um Typographien von Verhalten. „Das Fliegengewicht“, „Die Große Bestie“, „Die Mapuche-Indianerin“ – so heißen die Figuren, und eines haben sie gemeinsam: die Suche nach einer Identität, die auch die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft ist. „Der gute Chilene“ (Rodrigo Pérez), der seiner ganzen Familie aus Eifersucht die Kehle durchgeschnitten hat, wird nicht müde, Bernardo O'Higgins – den chilenischen Staatsgründer – anzurufen, wie zum Beweis für seine Berechtigung zum vaterländischen Helden. Solche Anspielungen gibt es dutzendfach, kaum entschlüsselbar für jemanden, der nicht mit den Bewußtseinsmechanismen der aktuellen chilenischen Gesellschaft vertraut ist, jener Gesellschaft, die zwischen Wirtschaftsboom und verordnetem nationalem Konsens eine behutsame Aufarbeitung einer alles andere als behutsamen Vergangenheit sucht. Also auch die Grenze von Theaterkritik.

Da ist „Die Mapuche-Indianerin“ (Maritza Estrada), die darauf besteht, Chilenin zu sein, und dann doch den Kimono ihres japanischen Liebhabers trägt wie eine zweite Haut. Auch dies eine Anspielung auf jene (fast ausgerotteten) Ureinwohner im Süden des Landes, die bis heute um ihren Platz im europäisch ausgerichteten sozialen Schmelztiegel kämpfen. Regisseur Alfredo Castro, der auch die Texte zusammenstellte, erzählt keine zusammenhängenden Geschichten.

Seine sechs Figuren geben nur Partikel ihrer persönlichen Historie preis, die kein Gesamtbild formen und dies auch gar nicht sollen. Castro abstrahiert die Geschichten bis auf ihr Skelett. Übrig bleiben Zeichen. Auf der Bühne nur ein paar buntbemalte Stellwände, eine Plexiglasscheibe und ein Glaskasten. Dort sitzt Rosa (Amparo Noguera), die einzige historische Figur. Eine Gattenmörderin, die die Leiche ihres Mannes 1923 zerstückelte und über ganz Santiago verteilte. Ihre Monologe legen sich wie eine Klammer um die anekdotischen Bruchstücke der anderen Schauspieler. Immer in körperlicher Anspannung, mit abgehackten Choreographien stellen sie eher Menschenpuppen denn Individuen dar. Deformierte Produkte einer deformierten Gesellschaft. Über allen thront – bedrohlich und beschützend zugleich – die Übermutter: ein ausgestopfter Schäferhund. Kommunikation findet kaum statt, höchstens für kurze Momente gemeinsamer Bewegungen.

Da versuchen die Vorstadthure (Paulina Urrutia – „das Mädchen aus dem Irrenhaus“) und der gute, servile, chilenische Kellner in einem grotesken Tanz wegzufliegen aus ihren persönlichen Gefängnissen, aber der Versuch scheitert nach Sekunden. Castro und seine Schauspieler suchen Essenzen unter den Worten, unter den Handlungen. Erinnern als Weg, die Oberflächen zu durchdringen. Liebe über der Grenze zur unkontrollierbaren Obsession ist dabei genauso ihr Thema wie die Auseinandersetzung mit Eltern und Heimat. Nicht als Ganzes, sondern in schmerzend zerrissenen Fetzen.

Das Gastspiel des Teatro La Memoria ist eingebettet in ein Symposium über das moderne lateinamerikanische Theater, das derzeit (bis einschließlich Sonntag) im Haus der Kulturen der Welt stattfindet. Der Stellenwert des Mediums, in einer Zeit, die Utopien genausowenig anzubieten hat wie Ideologien, ist auch in den Ländern des Cono Sur der Schwerpunkt der Stunde. Die „Geschichte des Blutes“ stellt diese Frage mit radikal reduzierten Mitteln und ohne den Anspruch einer Antwort. Ein schwieriger, aber wichtiger Einblick in die Theaterlandschaft der Südspitze Lateinamerikas, der mit den gängigen (aber für diesen Teil des Kontinents überhaupt nicht zutreffenden) Folkloreklischees gründlich aufräumt.

Heute und morgen, jeweils 20 Uhr im Theater am Halleschen Ufer (32), Kreuzberg (in spanischer Sprache)