Antike Maürn, Meereß-piegel, Statün

■ Alles ist schief in Pisa, auch der ungeheüre Umgang mit der deutschen Sprache

„Sulmona (405 m.ü.M.) liegt in dem Peligna Tal, der früchtbaren, malerischen Ebene in der Provinz L'Aquila, am Fuss des Monte Morrone, der Gizio und der Vella, und eine riesige Gebirgskette geben die Stadt um.“ Ein Zitat aus einem etwas verblichenen Prospekt eines kleinen Abbruzzen-Städtchens – und zugleich eine fast wehmütige Reminiszenz an jene fernen sechziger Jahre, als wir noch aus jedem Italienurlaub ein reiches Sortiment an Werbebroschüren mit nach Hause nehmen durften, denen die vergebliche Mühe einer Übertragung ins Deutsche schon von weitem anzusehen war: „Ausser den wichtigsten Sehenswürdigkeiten gibt es zahlreiche Gebäude und bezeichnende Ecke, die sehr interessant sind – Paläste, Strassen, Häuser, Bögen, Plätzchen.“

Wir schmunzelten und wußten, was gemeint war. Gewiß, es gab schon damals Leute, deren Dünkel gegenüber „italienischer Rückständigkeit“ an solchen, zuweilen rührenden Versuchen eine billige Bestätigung fand. Nicht wenige jedoch bewunderten insgeheim die Lässigkeit der Italiener.

Doch das ist lange her. Wer in diesen Tagen nach Italien, zum Beispiel nach Pisa, fährt, der kann die Fortschritte in der Nivellierung der europäischen Konsumkultur auch an den jüngsten Druckwerken der Tourismusindustrie ablesen. In Pisa findet man derzeit nicht nur eine enorme Auswahl an Schachspielen mit vier schiefen Türmen sowie weiteren Exemplaren des „Torre Pendente“ aus Carrara-Marmor, Gips oder Elfenbeinimitat, sondern auch eine kleine Schrift mit dem schlichten Titel „Pisa – Denkmäler, Kunstwerke des Domes und der Stadt“. Für cinquemilla Lire ist dieses in allerlei Sprachen übersetzte Werk zu haben, natürlich auch in Deutsch.

Wer darin jedoch noch immer jenen saloppen Umgang mit der deutschen Spache erwartet, den wir von früher kennen, wird herb enttäuscht: „Was das Klima betrifft, kann man wohl sagen, daß Pisa eines der mildesten von ganz Italien hat und zwar dadurch, daß die Pisaner Berge, die Berge der Garfagnana und die Apuanischen Alpen es vor den kalten Nordwinden schützen, während das nahe Meer ihm die milden Winde von Westen und Süden schenkt.“ Das mag vielleicht hölzern klingen, ist jedoch völlig korrekt. Selbst ein pingeliger Studienrat aus Gelsenkirchen wüßte da kaum irgendwo seinen Rotstift anzusetzen.

„Die berühmte Konstruktion“, so heißt es über jenen Bau, dessentwegen alles nach Pisa reist, „ist in romanischem Stil und geht, wie schon gesagt, auf das Jahr 1174 zurück.“ Selbst das „ü“, so registrieren wir erfreut, welches noch in so manchen italienischen Setzkasten der fünfziger Jahre fehlte, scheint heute eine blanke Selbstverständlichkeit. Fast schon ist man geneigt, das Büchlein wieder aus der Hand zu legen, da stolpert man doch noch: Auf Seite 8, wo wir über die „Schönheit der antiken Maürn“ belehrt werden, die angeblich im Kontrast zur „Harmonie der Formen und Farben des Domplatzes“ stehen. Antike Maürn? Ein seltener, uns bisher entgangener Begriff aus dem Vokabularium der europäischen Kunstgeschichte? Bevor wir bereit sind, uns die jäh eröffnete Bildungslücke einzugestehen, lesen wir weiter und erfahren, daß der Dom das „zürst auf dem Platz unternommene Werk“ war, auf dessen Fassade eine „Statü“ der Madonna von Andrea Pisano thront. Und auf einmal wird alles klar. Ist nicht im Deutschen „ue“ stets „ü“? Das aber kann heutzutage jedes simple Textprogramm: Befehlsmenü, Suchen „ue“, Ersetzen durch „ü“, cercare „ue“, sostituire con „ü“, esegui! – deutsch: enter! – und schon ist die „Tuer“ der „Tür“ gewichen.

Und ganz nebenbei auch die „Bequemlichkeit“ der Hotels von Pisa deren „Beqümlichkeit“! Ein wahrlich ungeheür kreativer Umgang mit Sprache, fast schon ein neüs Stück experimenteller „Computer-Literatur“!

Was im Bleisatz noch Tage gedauert und enorme Kosten verursacht hätte, erledigen solche Programme in Bruchteilen von Sekunden. Und so kann das kleine Buch über Pisa gleich einer weiteren Eigenheit der deutschen Sprache zu Leibe rücken, dem „ß“. Endlich hat dieser urdeutsche Buchstabe auch in italienischen Publikationen den ihm gebührenden Platz gefunden! Befehlsmenü, ersetze „ss“ und so weiter, esegui/enter: Fertig ist der „Meereß-piegel“, welchen die Stadt Pisa um genau vier Meter überragt und der unglücklicherweise gerade an dieser Stelle getrennt werden mußte.

Wohlan, auf nach Pisa, wo uns nicht nur die „Faßade“ des Domes mit ihren wunderbaren „Statün“ erwartet, sondern auch die „Beleuchtung von S. Ranieri“, die alljährlich durch ein „intereßantes Feürwerk gekrönt“ wird. Werner Trapp