Zum Shopping nach Sarajevo

Vor Scharfschützen fürchtet sich niemand mehr, die Barrikaden sind Relikte. Aber aus den Vororten der bosnischen Hauptstadt fliehen die Serben  ■ Aus Sarajevo Georg Baltissen

Trotz eisiger Kälte schlendern Hunderte von Menschen an diesem Februarabend auf Sarajevos Flaniermeile, als sei der Frühling ausgebrochen. Die Straßen sind hell erleuchtet. Die Erleichterung darüber, nicht mehr beschossen zu werden und frei in der Stadt herumlaufen zu können, ist allenthalben spürbar. 45 Tage nach Inkrafttreten des Friedensabkommens für Bosnien hat Sarajevo zu neuem Leben zurückgefunden. Morgendliche Verkehrsstaus und abendliches Gedränge in den vielen neuen Cafés und Kneipen signalisieren Normalität. Die Angebote in den Geschäften übersteigen inzwischen wieder die Kaufkraft der Kunden. Und nur Amerikaner und Schweizer regen sich allabendlich im Restaurant darüber auf, daß die Deutsche Mark das einzig akzeptierte Zahlungsmittel ist.

Sarajevo atmet auf. Jeden zweiten Tag gibt es fließendes Wasser; Strom, wenn auch rationiert, sogar jeden Tag. Und das Gas zum Heizen ist kostenlos – dank der Europäischen Gemeinschaft, die bis Ende März die Rechnung für das russische Gas übernommen hat.

Die bosnische Hauptstadt zu erreichen oder zu verlassen ist kein lebensgefährliches Unterfangen mehr. Und an den selten gewordenen serbisch-bosnischen Kontrollposten in den Vororten Sarajevos wird kein Muslim oder Kroate mehr verschleppt, wie noch Ende vergangenen Jahres. Die einst so gefürchtete Sniper-Allee kann gefahrlos passiert werden, nachts ist sie hell erleuchtet. Die aus Bussen, Straßenbahnen und Containern gebildeten Barrikaden gegen die Heckenschützen stehen zwar noch, wirken aber schon wie Relikte einer vergangenen Zeit. Die „Brücke der Freundschaft und Brüderlichkeit“ im serbisch kontrollierten Stadtteil Grbavica war in den vergangenen zwei Tagen offen und ohne Kontrollen zu passieren. Zwar wiesen gestern neue Schikanen und eine lange Schlange von Wartenden vor der von französischen Ifor-Truppen bewachten Brücke darauf hin, daß die Bewegungsfreiheit immer noch eingeschränkt ist. Aber in den vergangenen Tagen wurden die ersten bosnischen Serben beim Shopping in Sarajevo gesehen.

Dabei geht es den Belagerern heute schlechter als den einst Belagerten. Der Weg über die Brücke nach Grbavica führt in eine buchstäblich seelenlose Trostlosigkeit. Die Hochhäuser an der Frontlinie sind völlig zerschossen und ausgebrannt. Die meisten Wohnungen in den dahinterliegenden Wohnblocks stehen leer. Auf den Straßen ein paar wenige Kinder und Alte. Drei Männer beladen einen Lastwagen mit Hausrat und allem, was irgendwie verwertbar erscheint. In spätestens 45 Tagen werden die ehemals von Muslimen, Kroaten und Serben gemeinsam bewohnten Stadtteile und Vororte Sarajevos, gemäß dem Dayton-Abkommen, der bosnisch-kroatischen Föderation unterstellt. Bis dahin dürften die meisten Serben Grbavica verlassen haben. Ein kleiner, vollgepackter Lastwagen fährt gerade los. Auf dem nassen Gras vor dem Wohnblock drehen die Räder durch. Erst beim dritten Anlauf schafft es der Fahrer bis auf die Straße. Ein kurzes Winken und Hupen, und wieder hat eine Familie Grbavica verlassen. Auf dem Marktplatz von Grbavica sind die Stände gähnend leer, es gibt keine Käufer mehr. Dennoch harren noch ein paar Frauen hinter Schnapsflaschen, Zigaretten und ein wenig Obst auf Kundschaft. Die Geschäfte gehen schlecht, die Preise sind gefallen. In Grbavica ist wie in den meisten serbisch kontrollierten Stadtteilen vieles um die Hälfte billiger als im übrigen Sarajevo.

So auch in Ilidza. Vom ersten Stock des Bürgermeisteramtes in Ilidza geht der Blick auf einen großzügig angelegten Innenhof. Die modernen vierstöckigen Wohnblocks, die drei Kinderspielplätze und einen nichtasphaltierten Parkplatz umrahmen, weisen keinerlei Kriegsspuren auf. Nur wenige Kinder tollen auf den Spielplätzen herum, spielen Ball oder eine Art Tennis. Zahlreiche Apartments machen schon von außen einen unbewohnten Eindruck. Nur auf wenigen Balkons hängt noch Wäsche zum Trocknen.

Der Krieg hat zwar die schmucken Wohnblocks verschont, aber die Menschen in Ilidza betrachten sich jetzt als Opfer des Friedens. „Mit denen können wir nicht leben“, sagt Rade Panić, ein 55jähriger Karrosserieschleifer, der in Deutschland lebt und arbeitet. Er besitzt ein Haus in Ilidza, und das wird er räumen. „Mein Leben ist mir wichtiger als ein Haus“, sagt er. „Die Muslime werden kommen und uns die Gurgel durchschneiden.“ Er unterstreicht seine Worte mit einer eindeutigen Handbewegung von der linken zur rechten Seite des Halses.

Kleine Lastwagen, vollbepackt mit Hausrat und Möbeln, quälen sich über die Straßen. Ein polizeilich begleiteter Konvoi von Tiefladern versucht, eine enge Kurve zu meistern. Auf den Tiefladern stehen Industrieanlagen und Maschinen. Was brauchbar ist, wird mitgenommen in die Republika Srbska. Die freiwillige ethnische Trennung wird die Teilung Bosniens vertiefen und dem Nationalismus neue Nahrung geben, nicht nur auf serbischer Seite.

Doch nachträglich am Dayton- Abkommen herumzuwerkeln und einen Sonderstatus oder spezielle Garantien für eine Bevölkerungsgruppe zu geben, würde einen Präzedenzfall schaffen, der den gesamten Friedensvertrag für Bosnien in Frage stellen würde – und das bis heute Erreichte dann auch.