Wartesaal und Baustelle DDR

Ein Wochenende theatralischer Reminiszenzen in Berlin: In der Volksbühne weihte Christoph Marthaler seine „Straße der Besten“ ein, im Berliner Ensemble betrieb Thomas Heise Grundlagenforschung durch Müllermaterial  ■ Von Petra Kohse

Von der theatralischen Reproduzierbarkeit ostdeutscher Vergangenheit im Zeitalter notwendiger Umorientierung, oder: Zwei Berliner Premieren aus gegebenem Anlaß mit verschiedenem Zweck und Ziel. In der Volksbühne tritt man die Zeitreise zu Fuß an, im Berliner Ensemble dauert sie fünf Stunden. In der Volksbühne sitzen die Zuschauer irgendwann selbst auf der Bühne, im Berliner Ensemble werden sie mit Wodka und f6-Zigaretten versorgt. In der Volksbühne sollen Bilder sprechen, im Berliner Ensemble gibt es beschwörend viel Text. Beide Theater erzählen von sich und vom Scheitern des realen Sozialismus. Die Volksbühne interessiert sich für die Spuren am Rande, das Berliner Ensemble für die Deformation des Kerns.

Gehen wir chronologisch vor. In der Volksbühne hatte am Donnerstag Christoph Marthalers „Straße der Besten“ Premiere. Sie führt durch die Hölle des Kleinbürgers, und das konsequent historisierend. „Auf eine Ergänzung des Mobiliars durch Stücke anderer Herkunft ist grundsätzlich verzichtet worden“, raunt ein konspirativ aussehender langer Dünner den Zuschauern ins Ohr. Dann beginnt er seine Führung durch das Reich der Zwangshandlungen, der Vergessenen und Besessenen, nicht ohne davor zu warnen, sich darüber ein Urteil zu bilden.

Auf dem Weg durchs obere und untere Foyer und durch den Keller auf die Bühne begegnet den etwa 70 Zuschauern immer wieder der Chor der Garderobieren. Wie Krähen auf dem Felde und diabolisch von unten beleuchtet sitzen sie strickend in einer Reihe, gespenstisch demonstrierend, daß derlei Produktivität nicht glücklich macht. Weiter: Ein Mann kritzelt im Treppenhaus Gleichungen auf die Wand, in einer mit Geweihen geschmückten Jagdecke wird geschossen, einer winkt froh durch eine Glasscheibe, ein anderer observiert zwei Männer beim Paartanz im sonst leeren Saal.

Im Keller helfen Pfeile bei der Orientierung. Stets geht es in einer Richtung „freundwärts“, in der anderen „feindwärts“. Hier hängt eine Krakauer auf dem Klo, dort bügelt einer zerknüllte Ausgaben des Neuen Deutschland. Jede Nische ein Wartesaal, ein Panoptikum der Kassengestellträger, die Polyacrylgesellschaft triumphiert als Wiedergänger.

Nach etwa einer Stunde geht es auf die Bühne. Die Zuschauerschaft wird aus der Tiefe nach oben gefahren und gedreht, Zeitenwende in Zeitlupe. Die Protagonisten aus den Gängen stehen vor einer Wand und verbringen Zeit. „Damit di Zeit nicht stehenbleibt“, wie in Marthalers „Murx“- Inszenierung so schön falsch geschrieben stand. Sie liegen auf dem Boden und stehen wieder auf. Sie tippen sich auf die Schulter. Eine zerreißt ihre Perlonstrümpfe, ein anderer kramt lüstern in seiner Aktentasche. Ab und zu reihen sie sich auf und schauen nacheinander nach oben. Doch von da kommt nichts, und das dauert etwa eine weitere Stunde. Das ist lang. Den Wartesaal Deutschland hat man schon verstanden, die Lust aufs Rätselspiel erlischt, und die Jazzklänge von Butch Morris und Martin Schütz helfen aus der Schläfrigkeit nicht heraus.

Christoph Marthaler, der Schweizer Minimalist, spielt mit Abziehbildchen einer klischierten DDR-Gesellschaft und läßt sie dann in Stillstand gerinnen. Verschwiegen lächelnd deutet er auf den Teufel mit dem Beelzebub, das aktionsgewohnte Volksbühnenpublikum vor den Kopf stoßend, die Geduld seiner eigenen Anhängerschaft aufs äußerste strapazierend. Daß nichts nicht gleich nichts ist, hat er durch Variation oft genug bewiesen. Hier blättert er ein Fotoalbum auf, von dem die meisten Seiten fast unbeklebt sind. Das Verschwinden des Regisseurs hinter der Inszenierung.

Und tatsächlich: Am Ende geht der Eiserne Vorhang auf, das schlaffe Zuschauertrüppchen auf der Bühne blickt auf die Schauspieler im Parkett und kann sich nur noch selber etwas Beifall spenden, um seine Anwesenheit zu rechtfertigen. „Die Straße der Besten“ ist ein Showdown der Müden — eine ironische, aber zu ausgedehnte Fußnote zum identitätsstiftenden Gesamtkonzept des Hauses, eine mähliche Butterfahrt im postsozialistischen Panzerkreuzer.

Ganz anders im Berliner Ensemble, wo am Samstag die lang erwartete Premiere von Thomas Heises Inszenierung „Der Bau“ Premiere hatte. Diese Reise führt auf die Großbaustelle, im Gepäck sind neben Heiner Müllers Stück auch seine „Hamletmaschine“ und Kafkas Erzählung „Der Bau“. Heise führt ganz ruhig in das weit zurückliegende Stadium des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, gelassen analysiert er die immanente Destruktivität. Müllers „Bau“, 1964 verboten, wurde 1980 in der Volksbühne von Fritz Marquardt uraufgeführt.

Das Stück zeigt eine Brigade beim Arbeitseinsatz, der immer nur soweit reicht wie das Material. Es zeigt einen Baustellenleiter, der gar nicht so schnell atmen kann, wie sich die Anweisungen ändern („Jede Sitzung eine Schwenkung, und das zehn Jahre lang, da lernt man sich von allen Seiten kennen“). Es zeigt einen Ingenieur, der Zeichnungen für die Schublade anfertigt und als selbsternannter Clown und „Hamlet von Leuna“, schon lange resigniert hat. Und es zeigt einen mit der Partei und einer Frau doppelt verheirateten Sekretär, der ein Verhältnis mit einer Ingenieurin anfängt, die er schwängert und sitzenläßt. Sozialismus ist, wenn trotzdem was entsteht.

Angelika Winter hat eine graue Wand auf die Bühne gestellt, in die, als Durchgang, anfangs ein großes Loch gestanzt ist. Später, nach dem 13. August 1961, ist das Loch zugemauert, noch später hängt ein rotes Tuch davor, am Ende stehen nur noch die Mauersteine und die Wand drumherum fehlt. Eine Entwicklung in Nuancen, zu der der konsequent reduzierte Schauspielstil paßt. Thomas Stecher als Parteisekretär Donat steht in Lederhut und -mantel ganz starr, nur die Augen rollen, und der Mund zuckt weit, wenn es aus ihm heraus spricht. Und um Hermann Beyer alias Baustellenleiter Belfert aus einer Grube zu helfen, reicht es, wenn er die Hand in dessen Richtung streckt.

Thomas Heise arrangiert das Ensemble in sinnfälligen Gruppen, wer einen Schritt zuviel machte, wäre schon verloren. Eine Reminiszenz in graublau, mit wenigen Farbflecken. Das rote Kleid der Ingenieurin Michaela Schmidt, ein roter Stuhl, die rote Zunge des lebensgroßen Rappen, auf dem einmal der Bezirkssekretär vorbeireitet. Und dazwischen das Erich- Weinert-Ensemble, der ehemalige NVA-Chor. Heise treibt Typenkunde. Für diejenigen, die wissen wollen, warum der Sozialismus implodierte, schlichtet er das metaphernreiche Material. Das Schauspiel schnurrt texttreu ab, und nur manchmal zeigt der Regisseur, welche Bilderkraft er hat.

Ein grandiose Szene etwa das Richtfest. Jörg-Michael Koerbl (sonst der Ingenieur Hasselbein), der in einer Motorradjacke auf dem nackten Oberkörper allein im Spot die „Hamletmaschine“ spricht, diesen existenzpathetischen Text über den Zeitpunkt nach einer europäischen Katastrophe, hat gerade in Düsternis geendet („Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen“), da flammt Licht auf, Wodka wird verteilt, und die ganze Bühne ist voller Leute, die im diszipliniert fröhlichen „Hipsie-Schritt“ den freudigen Anlaß exerzieren.

Als Uwe Steinbruch Kafkas Text in Parteisekretärshaltung und -duktus spricht, gibt es eine „Optionspause“. Die Zuschauer können den Saal verlassen, können der Selbsterhaltungslitanei eines Höhlenwesens entfliehen, brauchen nicht zu hören, wie einer sinnlosen Verbarrikadierung ein Sinn gegeben werden soll, aufgrund der geradezu absurden Möglichkeit eines Angriffs. Heise ist kein Prediger. Und nicht rückwärtsgewandt: Als russischer Technologieexperte tritt Thomas Wendrich mit einem Propeller auf dem Rücken auf.

Doch trotz solcher Spielereien dominiert die Sprödigkeit in der „Bau“-Inszenierung. Es ist keine gefällige Arbeit. Aber eine gute. Während Marthaler den komischen Mehrwert sozialistischer Restbilder in den Leerlauf überführt, spürt Heise die Wurzeln einer Orientierungslosigkeit auf, die bis heute nachwirkt. Dort eine Petitesse, hier ein Konzept.

„Die Straße der Besten“ von Christoph Marthaler. Volksbühne Berlin. Nächste Aufführung: heute, 19.30 Uhr; „Der Bau“ von Heiner Müller, Regie: Thomas Heise. Berliner Ensemble. Nächste Aufführungen: 6./7.2., 19 Uhr