US-Physiker rechnen für Garching

Der Verzicht auf waffentaugliches Uran im Reaktor München II ist möglich  ■ Von Gerd Rosenkranz

Seit vierzig Jahren nutzen Festkörperphysiker, Chemiker und Biologen Neutronen als elegantes Werkzeug zur Feinstrukturuntersuchung fester und flüssiger, metallischer und organischer Substanzen. Die neutralen Elementarteilchen „durchleuchten“ feste Proben, geben Auskunft über Art und Anordnung der Atome in ihrem Innern. Für die Leistungsfähigkeit einer Neutronenquelle entscheidend sind zwei Größen: der Neutronenfluß, also die Zahl der pro Sekunde und Quadratzentimeter ausgestrahlten Teilchen; und die Verfügbarkeit der Quelle, die in einem Forschungsreaktor wesentlich von der Häufigkeit der Brennelementwechsel und Revisionen bestimmt ist.

Ziemlich gleichgültig ist den Neutronennutzern die Art der Kernreaktion, die den Neutronenstrahl liefert. Üblicherweise stammen die Teilchen aus einer Kernspaltungsreaktion in einem Reaktor, bei der Neutronen im Überschuß entstehen. Als zukunftsträchtige Alternative gelten sogenannte Spallationsquellen. In diesem Fall werden positiv geladene Protonen mit hoher Geschwindigkeit auf ein Ziel aus Schwermetall geschossen. Beim Aufprall entstehen die neutralen Teilchen ebenfalls in großer Zahl. Auf der Welt gibt es rund 300 Forschungsreaktoren, jedoch bisher nur vier Spallationsquellen: zwei in den USA und je eine in Japan und England.

Der deutsch-amerikanische Streit über die Nutzung von waffentauglichem Uran im geplanten Forschungsreaktor München II (FRM II) in Garching wird deshalb so erbittert ausgetragen, weil seit 18 Jahren mindestens im Westen als Konsens galt, neue Anlagen nicht mehr mit dem brisanten Material zu befeuern. Um dies zu erreichen, ohne die Leistungsfähigkeit der Neutronenquellen zu mindern, entwickelten insbesondere die USA und die Bundesrepublik in den achtziger Jahren eigens neuartige Brennstoffe auf der Basis der Verbindung Uransilizid. Darin finden mehr Uranatome pro Volumeneinheit Platz als in alten Brennstoffen auf Uranoxyd-Basis. Im Gegenzug kann der Anteil des spaltbaren Uranisotops U-235 von 93 Prozent (HEU, highly enriched uranium) heruntergefahren werden auf nur noch 20 Prozent (LEU, low enriched uranium). LEU taugt im Gegensatz zu HEU nicht als Spaltstoff für Atombomben.

Auch die Garchinger Projektplaner interessierten sich brennend für die neuen Materialien. Jedoch nicht, um von HEU auf LEU umzuschwenken und so das Risiko der Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verringern. Vielmehr konzipierten sie für ihr Vorhaben einen Reaktorkern mit einem hochangereicherten und hochdichten Uranbrennstoff. Eine klassische „Zweckentfremdung“. Denn zuvor waren in Deutschland 40 Millionen Mark und in den USA etwa 50 Millionen Dollar an Steuergeldern ausgegeben worden, um waffentaugliches Uran aus zivilen Spaltstoffkreisläufen zu verbannen und nicht um bayerischen Forscherehrgeiz zu befriedigen.

Physikalisch macht der dreiste Coup von Garching durchaus Sinn. Der FRM II soll aus einer thermischen Leistung von nur 20 Megawatt einen Neutronenfluß von 800 Billionen Neutronen pro Quadratzentimeter und Sekunde bereitstellen. Das wäre „Weltrekord“.

Seit Herbst 1995 veröffentlichen Wissenschaftler des Argonne National Laboratory (ANL), Illinois, in dichter Folge vom US- Energieministerium finanzierte Studien, um die Technische Universität München doch noch zu einem Redesign ihres Reaktors auf der Basis von LEU zu bewegen.

Im diplomatischen Theaterdonner nach den Mitte Januar am Tegernsee gescheiterten deutsch- amerikanischen Krisengesprächen ging unter, daß die ANL-Physiker dort erneut das Design für einen LEU-Kern einbrachten und die Kritik aus Garching an früheren Vorschlägen Punkt für Punkt entkräfteten. Das Papier (Attachment II, Comparison of the HEUDesign With an Alternative LEU Design“, N. A. Hanan et al.) liegt der taz vor. Der amerikanische LEU-Kern leistet für die Anwender dasselbe wie das derzeitige Konzept der TU München.

Im Gegensatz zum bisher nie getesteten hochangereicherten Brennstoff für den Garchinger FRM II-Kern, ist der LEU-Brennstoff für den Alternativkern in den USA bereits testweise „bestrahlt“ worden und für den Routinebetrieb ohne weiteres genehmigungsfähig. Das LEU-Konzept erzwingt ein größeres Kernvolumen (gut 32 cm im Durchmesser, statt 22,4 cm beim HEU-Design und 80 cm statt 70 cm in der Höhe) und er schafft die 800 Billionen Neutronen statt aus 20 Megawatt erst aus 32 Megawatt. Damit steht außer Zweifel, daß technisch nichts gegen ein Redesign spricht. Allerdings wäre eine Neukonstruktion und Wiederholung des Genehmigungsverfahrens unumgänglich.

In ihrem „Attachment II“ widersprechen die Amerikaner vehement Sicherheitsbedenken, die die Garchinger Reaktorplaner zuvor gegen den Alternativkern ins Feld geführt hatten. Die FRM-II-Verfechter hatten Zweifel angemeldet an der mechanischen Stabilität des aus sandwichartigen Brennstoffplatten aufgebauten LEU-Alternativkerns. Doch in den USA war an einem 1995 aufgegebenen Projekt eine vergleichbare Konstruktion bereits unter erheblich schärferen Bedingungen getestet worden und hatte problemlos standgehalten. Für zwei weitere von der TU München als kritisch eingestufte Störfallszenarien legten die ANL-Kontrahenten am Tegernsee Berechnungen vor, die auf große Sicherheitereserven bei dem LEU-Kern deuten.

Allerdings fühlte sich der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) berufen, die Seriosität der US-Berechnungen in Zweifel zu ziehen. Er wundere sich, meinte der glühende Verfechter der Garchinger „Heimatquelle“, über die „kaum nachvollziehbare Leichtgläubigkeit gegenüber theoretischen Berechnungen in den USA". Pech für den Minister: Auch der in Garching anvisierte HEU-Kern beruht ausschließlich auf theoretischen Berechnungen. Und: Die Rechencodes zur Abschätzung der kernphysikalischen Vorgänge in Forschungsreaktoren werden – unter dem Dach der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) in Wien – seit Jahren gesammelt, dokumentiert und miteinander verglichen. Die Ergebnisse deutscher, japanischer und amerikanischer Wissenschaftlergruppen sind praktisch identisch.