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Das Spiel mit der doppelten Macht im Kaukasus

Tagsüber plaudern tschetschenische Rebellen mit Angehörigen der moskautreuen Regierungstruppen, nachts beschießen sie sich. Rußland finanziert den Krieg und liefert den Unabhängigkeitskämpfern auch noch Waffen  ■ Aus Grosny Maxim Korzhov

Auf dem Leninprospekt, der Hauptstraße von Grosny, sind die Straßenlaternen wieder repariert. Sobald es dunkel wird, werden sie angezündet und brennen dann bis zum Morgen. Ihr Licht fällt auf zerstörte Häuser und schwarze Löcher, dorthin, wo einmal Fenster waren. Auch eine neue Ampel hat man vor wenigen Tagen an der Straßenkreuzung aufgestellt. Fast ein wenig festlich flackert sie die ganze Nacht ... Rot, Gelb, Grün.

Die Straßen sind wie ausgestorben. Sogar die Hunde und Katzen verstecken sich abends in den Kellern. Plötzlich fällt ein Schuß. Dann noch einer. Und eine Granatenexplosion zerreißt die Stille.

In Tschetschenien ist das zweite Jahr des Krieges angebrochen, eines Krieges, den mittlerweile Russen und Tschetschenen merkwürdig nennen. „Ist dieser Krieg vielleicht nicht seltsam?“ sagt Achmed Sakaew. Der ehemalige tschetschenische Kulturminister ist jetzt Mitglied des Stabes von Rebellenchef Dchochdar Dudajew und einer der Anführer der Widerstandstruppen. „Wir kämpfen mit russischem Geld und russischen Waffen gegen die russische Armee. Das ist eine unglaubliche Situation, aber so ist es.“

Achmed wohnt in Urus-Martan, 15 Kilometer von Grosny entfernt. Er wird von Leibwächtern beschützt. Denn in diesem Dorf gibt es außer den Rebellen noch einen weiteren Machthaber: den von der prorussischen Regierung Doku Sawgajews ernannten Behördenchef und dessen tschetschenische Sondereinheiten (Omon). Den Kämpfern für den „heiligen Krieg“ bereitet das keine Probleme: Auf der Hauptstraße, gestützt auf eine Kalaschnikow, unterhalten sie sich mit den Omon- Leuten. Hamid, einer von Sakaews Leuten, spricht ganz offen über die Waffenpreise: „Eine Kalaschnikow kostet zwischen 400 und 500, eine Panzerfaust um die 800, eine Handfeuerwaffe zwischen 700 und 800 US-Dollar. „Die Russen geben den Truppen von Sagajew Waffen, damit sie gegen uns kämpfen. Und wir kaufen die Waffen dann bei ihnen“, erzählt Hamid.

Eine solche Koexistenz gibt es heute praktisch in allen Dörfern Tschetscheniens. Wo sich die Rebellen nicht unbehelligt auf der Straße aufhalten können, bleiben sie, wie in Grozny, tagsüber zu Hause und bereiten sich auf den nächtlichen Kampf vor. Dudajew und seine Leute profitieren in vielerlei Hinsicht von dieser „doppelten Macht“. Denn mehr als ein Jahr nach dem Beginn der Kämpfe gibt es in Tschetschenien kein Dorf, in dem der Krieg nicht seine Spuren hinterlassen hätte. Die Menschen haben kein Geld und nichts zu essen. Auch die Ernte fiel dem Krieg zum Opfer. „Sollen die Russen doch unsere Leute ernähren. Und dafür können wir Sawgajew sehr gut gebrauchen. Ihm ist es zu verdanken, daß aus Rußland so viele Mittel nach Tschetschenien fließen. Die Föderation zahlt unseren Alten die Renten und den anderen jetzt auch Löhne. Das erspart uns viele Probleme. Wir können weiterkämpfen und brauchen uns um nichts zu kümmern“, sagt der Exkulturminister. Und die Einheiten von Dudajew seien jetzt besser ausgerüstet und erfahrener als zu Beginn des Krieges und bereit weiterzukämpfen.

„Das Vertrauen ist erschüttert, die Achtung verloren und die Hoffnung zerstört – wenn es nichts mehr gibt, ist die Macht des Kaisers zu Ende“, titelte die russische Tageszeitung Obschaja Gazeta nach dem Ende des Angriffs auf das dagestanische Dorf Perwomaiskoje. Diese Geschehnisse wurden zur Schande für ganz Rußland. Und die Folgen könnten für das Land und die Regierung von Boris Jelzin katastrophal sein. „Die Dreckshunde! Sie haben uns alle verheizt“, sagt Omon-Kämpfer Aleksej, der nach dem ersten Angriff gerade noch aus Perwomaiskoje herausgekommen ist. Und über sein mit Dreck verschmiertes Gesicht kullern Tränen.

Der Mangel an Verpflegung, warmer Kleidung, das Fehlen eines klaren Einsatzplanes und die Sturheit der Führung: Alle diesen typischen Merkmale des Tschetschenien-Einsatzes offenbarten in dem Geiseldrama von Perwomaiskoje eine Regierungskrise. „Die Moskauer Regierung heuchelt und lügt ständig. Sie deklariert eine Operation zur Vernichtung der Geiseln als eine Operation zu deren Befreiung“, sagte der Menschenrechtler Sergej Kowaljow in einem Interview mit der russischen Zeitschrift Ogonjok.

Dabei hätte die Besetzung des Krankenhauses von Kisljar Boris Jelzin bereits zu Beginn die Möglichkeit eines Sieges ohne große Verluste eröffnet. Mit einem Minimum an Aufwand und durchdachten Aktionen hätte Moskau für die Rebellen von Dudajew alle Zufahrtswege nach Dagestan blockieren können. Moskau hätte Dudajew moralisch und politisch in den Augen des ganzen Kaukasus diskreditieren können. Eine günstigere Situation, um die Weltöffentlichkeit für sich einzunehmen, läßt sich kaum vorstellen.

Denn noch während sich der Geiselnehmer Salman Radujew im Krankenhaus verschanzt hatte, um wenig später mit den Geiseln zu fliehen, distanzierten sich sogar Dudajew und sein Informationsminister Mowlodij Ugurow von den Terroristen. „Radujew hat entgegen den Befehlen gehandelt. Niemand hat ihm für diese Geiselnahme einen Auftrag erteilt. Er wird vor Gericht gestellt“, teilte Ugurow via Satellitentelefon mit.

Doch die Moskauer Führung zog die „Operation“ bis zum Ende durch, machte das kleine dagestanische Dorf dem Erdboden gleich und „versetzte der föderalen Regierung den denkbar größten moralischen Schlag“ (Obschaja Gazeta). „Als ich den Einsatzbefehl für das Dorf Sowetskoje (zwei Kilometer von Grosny) bekam, war ich erstaunt. Im Radio war die Rede von mehreren hundert Geiseln. Aber ich habe noch nirgendwo gehört, daß schon einmal zur Befreiung von Geiseln Raketenwerfer eingesetzt wurden“, erzählt Leutnant Sergej, Kommandeur der Raketenwerfereinheit BM-21. Noch mehr wunderte sich Sergej, als er wenig später auch noch Haubitzen und Hubschrauber erblickte. Doch da hatte der Verantwortliche des Einsatzes, General Michail Barsukow, seit kurzem Chef des föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) schon bekanntgegeben, daß alle Geiseln bereits tot seien. Nun könne die „Kriegsoperation zur Vernichtung von Radujews Bande“ beginnen. Anschließend sagte Barsukow: „Der Tschetschene kann nur töten. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, plündert er. Wenn auch das nicht geht, stiehlt er.“

Die Bilder von Perwomaiskoje gingen um die ganze Welt. Und das, obwohl die Generäle alles mögliche versuchten, um die Journalisten zu behindern. Sogar Hunde wurden auf die Vertreter der Presse gehetzt. Unterdessen feuerten Raketeneinsatztruppen, Panzer und Hubschrauber aus allen Rohren. Und Jelzin verbreitete im Fernsehen die Lüge, daß sich die Rebellen in unterirdischen Betonbunkern versteckt hielten und alte Menschen umbrächten.

Salman Radujew empfängt die Journalisten in Nowogroznezki, 50 Kilometer von Grosny entfernt, in einer Schule. Ihm war die Flucht aus Perwomaiskoje gelungen. Nicht nur, daß er dabei einen angeblich dreifachen Absperring überwand. Er nahm auch gleich noch etwa 60 Geiseln mit und führte die Armee, den föderalen Sicherheitsdienst und das Innenministerium einmal mehr regelrecht vor. Lächelnd schlendert Radujew über den Korridor und fühlt sich sichtlich als Held. „Nun, wie geht es denn den Journalisten? Arbeit gibt es doch wohl genug, oder?“ fragt er und klopft einem der Wartenden auf die Schulter. „Wir haben nichts dagegen, auch noch nach Rußland zu fahren und dort zu kämpfen. Gerade unsere jungen Leute warten nur darauf. Vielleicht nach Wladiwostok, Chabarowsk oder Moskau“, sagt er. Und draußen, nur 400 Meter entfernt, rollen ruhig Panzer der Truppen des russischen Innenministeriums vorbei.

Der Tschetschenien-Krieg, besonders aber die Ereignisse von Perwomaiskoje, haben Boris Jelzin und seine Regierung vollkommen kompromittiert. Und ein Sieg des Kommunisten Gennadi Sjugamow bei den Präsidentenwahlen ist noch einen Schritt näher gerückt. „Vielleicht hat der eine oder andere auch noch nach Beginn des Krieges in Tschetschenien Zweifel gehabt. Doch die letzten Ereignisse – der Wechsel an der Spitze des Präsidialamtes von Filatow zu Jegorow und der Krieg in Perwomaiskoje – sollten eins deutlich gemacht haben: Die Möglichkeiten der demokratischen Öffentlichkeit, um auf die Macht Einfluß zu nehmen, sind ausgeschöpft. Die Macht beschäftigt sich nur noch mit einer einzigen Aufgabe: ihrer Selbsterhaltung“, sagt Viktor Schejnijs, Duma-Abgeordneter der liberalen Jabloko-Fraktion.

Auch wenn es paradox scheint, in Tschetschenien warten beide Seiten auf die Machtübernahme der Kommunisten und glauben an den Präsidenten Sjugamow. Denn Jelzin kann diesen Krieg jetzt nicht einfach beenden und seine Truppen abziehen, glaubt Achmed Sakajew. „Viele machen dabei doch das große Geld und lösen so ihre Probleme. Und wenn Jelzin doch seine Truppen zurückruft, wird ganz Rußland ihn fragen: Warum habt ihr überhaupt angefangen? Wozu die vielen Opfer?“ sagt er. Demgegeüber werden die Kommunisten, die Jelzins Tschtschenien-Politik noch unterstützen, um ihn total zu kompromittieren, zu einem Frieden im Kaukasus gezwungen sein, wollen sie Rußland nicht völlig zerstören. Sakajew weiß, wovon er redet. Schließlich hätten ihn Mitglieder der Kommunistischen Partei in letzter Zeit in Tschetschenien besucht.

Auch in der Armee hofft man auf einen Sieg der Kommunisten. Viele Offiziere glauben, daß der neue Präsident die russische Armee von der Schande reinwaschen und das „tschetschenische Probleme“ lösen wird, so, wie es nötig ist. Das heißt: Dudajew und seine Rebellen auslöschen. Auch Ogonjok spekuliert schon über einen möglichen Sieg Sjuganows, allerdings etwas anders, als die Angehörigen der Armee und von Dudajews Truppen. „Die größte Gefahr für Rußland ist heute die einer kommunistischen Revanche.“

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