Das schönste Flüchtlingslager der Welt

Bei den ruandischen Flüchtlingen in Zaire gibt es alles: Computer auf dem Markt, Whisky in der Bar und abschließbare Klos. An eine Rückkehr nach Ruanda glaubt selbst die UNO nicht  ■ Aus Bukavu Bettina Gaus

Der Tagestarif im Stundenhotel beträgt drei Dollar. Nachts kostet eines der winzigen Schlafzimmer, ausgestattet mit einer Petroleumlampe und Wassereimer, fünf Dollar. Die hölzerne, runde Eckbank und der Tisch im Warteraum sind säuberlich mit einer strahlend weißen Plastikplane bespannt, die vom UNO-Flüchtlingswerk UNHCR ursprünglich als Regenschutz ausgegeben worden war. In der Bar werden Limonade, Bier und Whisky ausgeschenkt. An der Wand hängt, wie in öffentlichen Gebäuden in Afrika üblich, ein Porträt des Staatsoberhauptes.

Dieses Staatsoberhaupt aber ist seit fast zwei Jahren tot. Das Bild zeigt den ehemaligen ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana, dessen Ermordung im April 1994 den Völkermord an der Tutsi- Minderheit in seinem Land ausgelöst hatte. Das Stundenhotel liegt im ruandischen Flüchtlingslager Kashusha unweit der zairischen Grenzstadt Bukavu.

Hier und im unmittelbar daneben liegenden Camp Nera gibt es fast alles, was auch in einer normalen Stadt zu finden ist: Zwischen den sauber gepflasterten Wegen, die zu den Zelten der Krankenstation führen, sind Blumenrabatten angelegt. Auf dem Markt gibt es neben Fleisch und Gemüse auch Computer, Radios und Nähmaschinen zu kaufen – am Zoll vorbei importiert, zu günstigen Preisen. Abends werden mit Hilfe eines Generators gegen einen Eintrittspreis von rund einem halben Dollar Videofilme gezeigt: „Karate“ und „Commando“. Die Latrinen der einzelnen Familien sind mit Vorhängeschlössern abgesperrt, um unbefugte Benutzung zu verhindern.

In einem großen Zelt stehen eine ruandische Flagge, einige Bänke und ein mit Papieren übersäter Schreibtisch. „Hier trifft sich das Kabinett, wenn die Minister hierherkommen“, meint Francois Nsengiyumva, früher Journalist bei Radio Ruanda. „Wir haben immer noch eine Regierung, auch wenn sie sich jetzt im Exil befindet.“ Die neuen Machthaber in Ruanda seien keine legitime Volksvertretung. „Sie haben nicht den Krieg gewonnen. Sie haben uns aus dem Land gejagt. Der Krieg geht weiter“, erklärt Jean Bezimana, ehemaliger Direktor einer Volksschule. „So lange diese Regierung im Amt bleibt, ohne die Macht mit uns zu teilen, so lange bleiben die Flüchtlinge hier.“

Die beiden Männer gehören zu den insgesamt fast zwei Millionen Ruandern, die im Sommer 1994 nach dem Sieg der Tutsi-dominierten Rebellenbewegung „Ruandische Patriotische Front“ (RPF) im ruandischen Bürgerkrieg ins Ausland flüchteten. Etwa die Hälfte von ihnen lebt Schätzungen internationaler Organisationen zufolge in Zaire, 800.000 in Tansania, die meisten übrigen in Burundi. Seit Monaten versucht der UNHCR, die Flüchtlinge zur freiwilligen Heimkehr zu veranlassen – bislang mit kaum meßbaren Erfolg.

„Seit Herbst sind die Zahlen der Rückkehrer allmählich gestiegen“, erklärt der Leiter des UNHCR- Büros in Bukavu, Patrick de Sousa. 500 Flüchtlinge seien im Dezember heimgekehrt, und das wertet er als ermutigendes Zeichen. Insgesamt leben in den Lagern um Bukavu 300.000 Ruander. Bleiben die Zahlen konstant, dann dauert es 50 Jahre, bis alle wieder zu Hause sind. Das UNO-Welternährungsprogramm WFP hat in seiner Bedarfsrechnung für 1996 die benötigte Menge Lebensmittel gegenüber dem Vorjahr um nicht einmal ein Gramm reduziert.

Aber die zairischen Gastgeber werden ungeduldig. In Bukavu haben sich die Preise seit dem Massenansturm verdreifacht, vor allem für Mieten. Wohlhabende Ruander haben in Bukavu Bars und Hotels übernommen. Sie treiben Handel und konkurrieren mit den einheimischen Geschäftsleuten, sind aber viel schwerer als diese von staatlichen Stellen zu kontrollieren. Steuern entrichtet so gut wie keiner.

Die Anwesenheit vieler internationaler Organisationen hat den Dollar zur Hauptwährung werden lassen. Selbst Stromrechnungen werden inzwischen damit bezahlt. Die großflächige Abholzung von Wäldern zur Feuerholzgewinnung hat Umweltschäden verursacht, deren Beseitigung Jahre dauern wird. Das soziale Gefüge ist völlig durcheinander: Ein Lehrer verdient umgerechnet drei Dollar im Monat – so viel erhält der lokale Angestellte einer internationalen Organisation am Tag.

„Die einheimische Bevölkerung ist wütend, weil es vielen Flüchtlingen besser geht als ihr“, erzählt Marco Onorato vom Roten Kreuz. „Sie bekommen Medizin umsonst, Essen umsonst und sie nehmen den Leuten hier auch noch Jobs weg. Tatsache ist, daß viele Ruander besser qualifiziert sind als Zairer, deshalb entscheiden sich die internationalen Organisationen oft für sie, wenn sie Arbeitskräfte suchen.“ Die große Zahl nagelneuer Geländewagen internationaler Organisationen in Bukavu, wo sonst fast nur klapprige Autos und alte Laster zu sehen sind, trägt nicht zur Verbesserung der Stimmung bei.

Zaires Diktator Mobutu Sésé- Séko profitiert von der Flüchtlingskrise. Ein Teil seiner notorisch undisziplinierten, unregelmäßig bezahlten Armee wird derzeit von den Vereinten Nationen entlohnt. Insgesamt 1.500 Soldaten, stationiert in der Nähe von drei Grenzstädten, erhalten von der UNO Uniformen, Nahrung und pro Mann etwa 30 Dollar im Monat. Dafür haben sie das Mandat, in den Lagern für Ordnung zu sorgen, internationale Organisationen zu schützen und bei freiwilligen Repatriierungen behilflich zu sein.

Langfristig bietet eine Flüchtlingskrise für Mobutu noch weit lukrativere Möglichkeiten. Aus politischen Gründen gibt es in Zaire nur noch wenige Entwicklungsprojekte. Jetzt sitzen auf Initiative verschiedener UNO-Organisationen Geberländer in Europa am Runden Tisch und erörtern Möglichkeiten. „Es geht wahrscheinlich um Hunderte von Millionen Dollar“, erläutert Patrick de Sousa vom UNHCR. „Eine Reihe von Entwicklungsprojekten sind vorgeschlagen worden, im Bereich Gesundheit, Sanitärwesen, Forstwirtschaft, Wasserversorgung, soziale Dienste. Zielgruppe ist die lokale Bevölkerung, die von der Anwesenheit der Flüchtlinge betroffen ist.“

Dennoch schwebt das Damoklesschwert der Zwangsrepatriierung weiter über den ruandischen Flüchtlingen. Im Spätsommer 1995 wurden etwa 6.000 Lagerbewohner aus der Region um Bukavu von zairischen Militärs gewaltsam über die Grenze gebracht. Die von der UNO bezahlten zairischen Soldaten sahen tatenlos zu. Obwohl die Regierung in Kinshasa ein ursprünglich gesetztes Ultimatum bis Ende letzten Jahres aufhob, befürchten viele Beobachter eine Wiederholung der Aktion. Modeste Mussamba, in der zairischen Stadtverwaltung von Bukavu zuständig für Flüchtlingsfragen, mag sich da nicht festlegen: „Wir wollen keine Zwangsrepatriierung. Aber wir wollen auch nicht, daß die Flüchtlinge hier bleiben. Sie müssen zurück.“ Es droht ein Blutbad – die Flüchtlinge sollen über Waffen in großer Zahl verfügen.

„Schauen Sie sich doch im Camp um. Man kann doch nicht im Ernst glauben, daß die Leute hier demnächst alles freiwillig abbrechen und in eine ungewisse Zukunft in Ruanda zurückkehren“, meint ein Mitarbeiter des UNHCR. Er und seine Kollegen haben es in den Lagern nicht leicht. Herausfordernd fragt ihn ein junger Mann, unterstützt vom beifälligen Nicken einer Runde Gleichaltriger, wann denn endlich die UNO für sichere Rückkehrbedingungen in Ruanda zu sorgen gedenke. „Seien Sie nicht naiv“, antwortet der UNHCR-Delegierte. „Sie können nicht erwarten, daß nach dem, was in Ruanda passiert ist, alles ganz ruhig und ohne Folgen weitergeht.“

Die Männer schweigen. Derartige Sätze sind in den Lagern nicht populär. Die Flüchtlinge, fast ausschließlich Hutus, fühlen sich ungerecht behandelt. Es ist immer wieder dasselbe, was ihre Sprecher und ruandische Intellektuelle im Exil fordern: die Wiederbelebung des Arusha-Friedensvertrages von 1993, der eine Teilung der Macht zwischen der Rebellenbewegung RPF und der damaligen Regierung in Kigali vorsah. Der Einwand, daß der Genozid von 1994 die Lage verändert habe und daß die militärischen Sieger des Bürgerkrieges kaum bereit sein dürften, ausgerechnet diejenigen in die Regierung aufzunehmen, denen die Planung des Massenmordes zur Last gelegt wird, stößt auf Verständnislosigkeit.

Das politische Klima beeinflußt auch diejenigen, die sich im Konflikt eigentlich neutral zu verhalten hätten: die Mitarbeiter internationaler Organisationen. Das UNHCR, das sich in der Vergangenheit ganz einfach nur um die Versorgung von Flüchtlingen zu kümmern hatte, wird bei der Frage, ob Lagerbewohner guten Gewissens zur Rückkehr nach Ruanda aufgefordert werden können, in eine politische Rolle gedrängt. Ruandas Gefängnisse sind überfüllt. „Die Flüchtlinge berichten von willkürlichen Verhaftungen. Ich denke, daß die Furcht davor, vor allem unter der Elite, gerechtfertigt ist“, sagt Patrick de Sousa vom UNHCR in Bukavu. Auch er spricht sich für eine Wiederbelebung des Arusha-Vertrages aus: „Das Abkommen liefert einen Rahmen für eine Lösung.“

Seine UNHCR-Kollegin Renate Dubini auf der anderen Seite der Grenze in der ruandischen Provinz Cyangugu hat ganz andere Sorgen. In ihrer Region wurden in den letzten Monaten Brücken gesprengt und Straßen vermint. Auf dem Markt der Grenzstadt Kamembe explodierte eine Bombe. Nördlich der Provinz starben kürzlich bei einem Angriff auf der Halbinsel Naymasheke mehrere Zivilisten. Seit Oktober wurden sieben Hochspannungsmasten von Unbekannten zerstört. „Die Täter sind fast mit Sicherheit Milizen aus den Flüchtlingslagern“, sagt der Mitarbeiter einer anderen Organisation. „Und sie haben Rückhalt in der Bevölkerung. Anders wäre das alles nicht möglich.“

Willkürakte staatlicher ruandischer Stellen sollen dagegen aus Cyangugu kaum zu vermelden sein. „Es sind nicht allzu viele Rückkehrer in unserer Gegend verhaftet worden, vielleicht ein Prozent. Es handelt sich um Einzelfälle“, sagt Renata Dubini.

Die Flüchtlingskrise wirft ein Schlaglicht auf die Krise der gesamten Region. Der Genozid in Ruanda hat auch zur Verschärfung der Lage in Burundi beigetragen, das dieselbe Bevölkerungsstruktur hat. Hier bekämpfen sich das fast ausschließlich aus Tutsi bestehende Militär und bewaffnete Hutu-Rebellen. Burundis Premierminister Nduwayo bezeichnete die ruandischen Milizen und Soldaten des gestürzten Regimes öffentlich als Verbündete der burundischen Rebellen. Sprecher der ruandischen Flüchtlinge berichten dagegen von einer engen Zusammenarbeit der Armeen beider Länder. Diplomaten schließen nicht aus, daß die gestürzten ruandischen Machthaber im zairischen Exil hoffen, auf dem Umweg über Burundi ihr Land zurückzuerobern.