Boris Jelzin bekommt kalte Füße

■ Der russische Präsident kündigt knapp fünf Monate vor den Präsidentenwahlen eine Friedensinitiative für Tschetschenien an. Tausende demonstrieren in der Hauptstadt Grosny gegen den Krieg im Kaukasus

Moskau (taz) – Immer deutlicher zeichnet sich ab, daß Rußlands Präsident Boris Jelzin keine Chance hat, die Präsidentschaftswahlen im Juni zu gewinnen, wenn er nicht mit einer friedlichen Beilegung des Krieges in Tschetschenien aufwartet. Diese Erkenntnis scheint auch bei ihm angekommen zu sein. Für die kommende Woche kündigte Jelzin daher eine neue Friedensinitiative an. Wie die aussehen soll und ob die russische Seite bereit ist, von ihrer starren Haltung zumindest einen Fingerbreit abzurücken, ließ er offen. In Moskau wurde bereits von einem Truppenabzug gemunkelt. Der russische Oberkommandierende in Tschetschenien, Generalleutnant Wjatscheslaw Tichomirow bestätigte, es gebe Gespräche mit der moskautreuen Regierung Doku Sawgajews über einen etappenweisen Abzug der Armee. Sawgajew griff die Andeutungen sofort auf. Vollmundig verkündete er den Abmarsch der Russen in den nächsten zwei bis drei Wochen. Dem widersprach Tichomorow: Es sei noch zu früh, um über die Bedingungen eines Abzuges zu sprechen.

Unterdessen sammelten sich gestern etwa 10.000 Menschen zu einer antirussischen Kundgebung im Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, berichtete die Nachrichtenagentur ITAR-TASS. Russischen Angaben zufolge demonstrierten auch etwa 1.000 Anhänger des von Moskau nicht anerkannten Tschetschenen-Präsidenten Dudajew. Sie forderten den Abzug der russischen Truppen und die Aufhebung der Wahlergebnisse vom Dezember.

Auch in Rußland selbst regt sich starker Protest. Täglich gingen unzählige Briefe ein, und Bürger riefen an, die zu einer konzertierten Aktion gegen die Fortsetzung des Krieges im Kaukasus aufrufen wollten, meldet die Tageszeitung Iswestija. Der liberale Gouverneur des Gebietes Nischni Nowgorod, Boris Nemzow, überbrachte Jelzin letzte Woche eine Million Unterschriften, die die sofortige Beendigung des Krieges verlangen. Die gleiche Kampagne startete am Wochenende in Moskau Jegor Gaidar, der Vorsitzende von „Wahl Rußlands“. Es ist geplant, die Unterschriftensammlung landesweit durchzuziehen. An 20 Millionen Stimmen kommt der Präsident nicht vorbei, hoffen die Initiatoren.

Sollten beide Seiten übereinkommen, bezöge sich das nur auf den von Sawgajews Gefolgsleuten kontrollierten Teil der Kaukasusrepublik. Das würde ihm vielleicht noch einige Zweifler zuspielen, die desolate Lage in der Region dürfte ein Teilabkommen kaum beseitigen. Um das Gebiet zu befrieden, müßten Verhandlungen mit den Rebellen von Dudajew aufgenommen werden. Nachdem Moskau bisher kategorisch abgelehnt hatte, mit ihnen zu verhandeln, würde ein derartiger Schwenk einigen Erklärungsbedarf hervorrufen. Selbst wenn Jelzin kompromißbereit wäre, bleibt zweifelhaft, ob ihm die Kriegspartei im Kreml die Freiheit ließe. Klaus-Helge Donath

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