Obervolta ohne Atomwaffen

■ Kohl versteht angeblich Rußlands Nato-Sorgen

Wen mag der Bundeskanzler nur gemeint haben? Auf der Sicherheitskonferenz in München kritisierte er in der Diskussion über die Nato-Osterweiterung, daß „im Westen bisher nicht genügend Rücksicht auf die psychologische Situation in Rußland genommen“ werde. Meinte Helmut Kohl etwa seinen Parteifreund, Verteidigungsminister Volker Rühe? Oder den bisherigen Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann? Oder etwa seinen feinfühligen Außenminister Klaus Kinkel?

In erster Linie diese Herren sowie Manfred Wörner als Nato-Generalsekretär haben die Debatte um die Osterweiterung losgetreten. Sie haben die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die Nato zur erklärten Zielsetzung der westlichen Militärallianz gemacht – gegen zunächst massive Bedenken der USA und anderer Bündnispartner.

Daß insbesonders Rühe bis heute keinerlei Gespür für die „psychologische Situation“ in Rußland entwickelt hat, bewies er am Wochenende auf der Sicherheitskonferenz, als er in der Debatte mit Moskaus Vizeaußenminister Kokoschin „genüßlich stichelte“ (dpa) und an die Charakterisierung der ehemaligen Weltmacht Sowjetunion als „Obervolta ohne Atomwaffen“ erinnerte. Keine Spur der von Kohl angemahnten „Sorgfalt und politischen Umsicht“, sondern ein Ausweis der vom Kanzler kritisierten „Oberlehrermentalität“ gegenüber Moskau. Doch für das Reden und Handeln von Rühe, Naumann und Kinkel trägt Kohl als Kanzler mit Richtlinienkompetenz die volle politische Mitverantwortung. Sein Auftritt auf der Konferenz in München glich daher dem des Brandstifters als Biedermann.

Sämtliche Bedenken und Einwände gegen eine Nato-Aufnahme osteuropäischer Staaten unter Ausschluß Rußlands wurden schon zu Beginn der Debatte vor drei Jahren deutlich vorgebracht. Nicht nur von Moskau, sondern auch von westlichen Politikern und Experten, die bis dato nicht durch Nato- kritische Äußerungen aufgefallen waren. Für eine Bedrohung der osteuropäischen Staaten durch Rußland gibt es seit dem Zerfall der Sowjetunion keinerlei Indizien.

Die überfällige Kurskorrektur des Westens wäre ein eindeutiges Bekenntnis zu einer gesamteuropäischen Sicherheitsinstitution, an der Rußland mit allen Rechten und Verpflichtungen beteiligt ist. Hierfür jetzt die Weichen zu stellen – das wäre tatsächlich ein historisches Verdienst des Bundeskanzlers um Europa. Andreas Zumach, Genf