Hilfloser Absturz in die Doppelwelt

■ Jean Vautrin und sein beeindruckender Roman „Groom“: die wilde Phantasie zwischen Macht und Ohnmacht

Da liegt die Ebene, der monotone, sandige Schüsselboden, der Paris als Ile de France umgibt. Auf der einen, der ehemals ländlichen Seite, ein Dorf auf einem Hügel wie eine Bastion, auf der anderen Seite die Wohnmonster der ausufernden Siedlungen vor der Hauptstadt. Chaim, der Mißhandelte, der Gescheuchte, wohnt auf der einen Seite, im Kokon des Bauchhauses, mit seiner Mutter Irma, die ihren Hüfthalter Charmereine von 1937 hütet und mit dem „Draußen“ nicht viel anfangen kann. Auf der anderen Seite ist das „richtige“ Leben, sind die realen Bedrohungen der Vorstadt. Der Buchumschlag zeigt ihn, wie Jean Vautrin ihn sich wohl vorgestellt hat, während er seinen Roman schrieb: Chaim als Groom, als Hotelpage, in knallroter Uniform, das Käppi leicht schräggestellt, in der Haltung eine Mischung aus Keckheit und Müdigkeit. Es ist ein Gemälde des 1943 verstorbenen Chaim Soutine, dessen Name an verschiedenen Stellen dieses Buches auftaucht. Sein ehemaliger Galerist, Monsieur Bing, bewohnt, inzwischen ein alter, sterbenskranker Mann, mehrere mit Müll zugestopfte Zimmer im Hotel Algonquin, in dem der Groom arbeitet. Dieses Algonquin steht nicht wie das berühmte Original in New York, sondern eben in Paris (oder doch nicht?), und im Kabäuschen der Grooms, in dem auch der 12jährige Chaim hockt, wenn er nicht gerade ältere amerikanische Damen beglückt, ist Monsieur Sa- tanas die größte Bedrohung.

Doch dieser unterdrückte und dabei selbstbewußte 12jährige Groom, der mit den alten Damen ebenso nonchalant fertig wird, wie mit dem sadistischen Vorgesetzten, und den es höchstens beflügelt, daß seine 13jährige Freundin von ihm schwanger ist, ist zu forsch um wahr zu sein, sein Leben in aller Skurrilität zu lebenswert für Chaims Wirklichkeit. Die sieht nämlich ganz anders aus: Der 25jährige Chaim, mit einem Klumpfuß befrachtet, ist Lehrer und zieht glücklos von Schule zu Schule, von älteren Kolleginnen abgeknutscht und/oder kompromitiert, von den Direktoren mit Mißachtung gestraft und von den Schülern mit Mißhandlungen.

Vielleicht war es seine Mutter, die von den Nazis gefoltert wurde und sich dabei selbst aus den Augen verlor, die ihm seinen Ekel vor Nähe, vor Körpern mitgab. Der allseits vom durch und durch unaushaltbaren Außen und Jetzt Bestürmte, verliert sich jedenfalls in seinen Phantasien wie seine Mutter sich verlor, nachdem sie in der Folter das Versteck eines jüdischen Kindes verraten hatte. Doch während die altgewordene Mutter sich in Stille immer weiter aus dem Leben zurückzieht und sich nur noch auf den Sohn und den Zufluchtsort ihres Heimes konzentriert, sind Chaims Phantasien verstörender, eigenwilliger, und schließlich so schwer zu bändigen, daß sie ihn überfordern. Der altgewordene Fred Astaire, dem Chaim als Page beim Step-Tanz zum Taxi einen Moment der Jugend schenkt, ist für ihn ebenso real, wie Szenen aus Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, die schließlich zu Chaims erstem Mord führen.

Die innere Verwahrlosung Chaims, die nicht mehr zu trennenden Ebenen in seinem Leben, schildert Vautrin aus der strikten Innensicht. Chaims Wahn hat, wie jeder Wahn, eine innere Logik, und ist so lebendig, daß er beim Lesen zur athmosphärisch dichten, vielschichtigen, fesselnden Zweitwelt wird, die gemeinsam mit der Erstwelt ein Art Ganzes formt, wie wir es aus manchen Alpträumen kennen.

Jean Vautrin, 1933 in Lothringen als Jean Herman geboren, veröffentlichte diesen Abstieg in die innere Hölle schon 1980 und schrieb in den letzten Jahren Gefälligeres. Trotzdem wollte er gestern Abend in Hamburg sein, um aus „Groom“ zu lesen. Gesundheitsgründe haben ihn gehindert; so bleibt uns nur die von Marie Luise Knott kongenial übersetzte deutsche Fassung aus dem Hamburger Rotbuch Verlag.

Thomas Plaichinger