Klempnern am Gesamtkunstwerk

■ Das Berliner Haus am Waldsee zeigt „Konzeptuelle Moskauer Kunst“

Der Besuch der Ausstellung „Flug, Entfernung, Verschwinden“ gleicht einer Rückkehr in die Kindheit, als man über Schnupfenfieber mit Märchen von „Fliegenden Koffern“ und „Sterntalern“ getröstet wurde. Sehrohre, Wolkenschilder, spiritistische Sitzungen und grüne Särge sind von den Exkursionen in andere Welten übriggeblieben. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Bedarfsmittelmesse für Magier, die im Berliner Haus am Waldsee stattfindet, sondern um einen Rückblick auf die „Konzeptuelle Moskauer Kunst“ seit den siebziger Jahren.

Als Transportmittel hinter die sichtbare Wirklichkeit dient etwa die Verkleinerung. Viktor Pivovarov hat 1979 den „Mikrohomo“ gezeichnet, der gigantische Teller mit Wurst passieren muß. Er klettert schließlich in eine Streichholzschachtel, um hinter dem Horizont einer winzigen Landschaft, die in der Schachtel gemalt ist, zu verschwinden. Während man noch stirnrunzelnd den Blick in diese Landschaft bohrt, hört man schon aus dem Kabinett nebenan ein Gespräch über das Fliegen aus eigener Kraft. Mit einem Block, der fast das ganze Zimmer ausfüllt, quetscht dort Pivovarovs Freund Ilya Kabakov den Besucher mit der Nase auf die Illustrationen einer Stadt, deren Bewohner wie Vögel über den Dächern kreisen.

Nun kennt inzwischen fast jeder Westler die Koordinaten des Sowjetalltags, der die Imagination ins Weite trieb: Dank Kabakov ist auf der einen Seite die vollgestopfte Gemeinschaftswohnung ein vertrauter Topos für ein Leben ohne Intimität, während auf der anderen Seite der Heldenkult um die Kosmonauten zu den Exportschlagern des Systems zählte. Nicht zuletzt drängte die Frage nach der Emigration die Vorstellungskraft über die Grenzen.

Aber Vorsicht! Die Identifizierung des typisch Russischen läuft verdächtig einfach. Denn die Reaktionen der Betrachter zu kalkulieren gehört für die Moskauer Künstler zur speziellen Fingerfertigkeit, gut trainiert angesichts einer mißtrauischen Kulturbürokratie. Den Trip ins Irreale als einzigen Fluchtweg des armen Künstlers aus ideologischen Fesseln zu sehen, könnte auch eine dem westlichen Betrachter unter die Jacke gejubelte Lesart sein. Damit er nicht gleich merkt, daß es eigentlich um den Abgesang auf eine vermeintliche Errungenschaft der westlichen Kunst geht: die „Installation“. Denn die Rede vom „Verschwinden“ meint auch das Material der Kunst, das sich im Konzept verflüchtigt. Juri Albert übersetzt diese Vorstellung in „blinde“ Bilder: Die weißen Tafeln beschreiben in Blindenschrift Bilder, die van Gogh malen wollte.

Der Auflösung der Malerei in Sprache entspricht das Wuchern des Kommentars. Je mehr verschwindet, desto fleißiger schwillt er an. Oft wirkt das Kauderwelsch der Assoziationen im Katalog, gespickt mit Quellen und Zitaten, wie Tarnung. Einerseits. Andererseits nehmen die Künstler damit höchst patriarchal die Interpretation selbst in die Hand.

In einem Exkurs faßt Pavel Pepperstein, jüngster Teilnehmer und zusammen mit der Prager Kuratorin Milena Slavicka auch Initiator der Ausstellung, die Geschichte der „Installation“ zusammen: Mehr verbinde sie mit dem Klempnerhandwerk, als gemeinhin zugegeben wird. Denn sie beginnt mit Duchamps Pissoir und endet mit Kabakovs Idee der „Toilette auf dem Berg“, die dem dort Sitzenden einen „Adlerblick“ über die Landschaft ermöglicht: Diese „Installation“ braucht nicht mehr realisiert zu werden, weil jeder sie sich vorstellen kann. Weiter treibt Pepperstein die Analogie der Konzeptkunst mit den Entsorgungsstationen für den körperlichen Ballast, weil er den von der Kunst produzierten ideellen Mehrwert als „metaphysische Kacke“ begreift. Man ahnt es schon: Das Abtauchen aus der irdischen Welt führt nicht unbedingt in den Himmel.

Von ferne grüßen Suprematisten und Futuristen, so wie Rodschenko den Turmspringer der Kamera entgegenfliegen ließ, Malewitsch in die weiße Unendlichkeit abtauchte und die Lenin- Skulptur auf dem geplanten Palast der Sowjets nie ohne Flugzeuge dargestellt wurde. An diese Erbschaft der Moderne erinnert im Haus am Waldsee ein Seitenraum. Doch was nun aus den utopischen Welten zurückkommt, hat eine vertraute Form. Die Reisenden bringen Banalitäten mit, die das Jenseits entsakralisieren und vom Ende des Utopischen erzählen.

Teils taugt die Kunst gar nur noch zum Wiedergänger, der in seinem Sarg auf den nächsten Auftritt wartet. So leiten Lena Elagina und Igor Makarevich mit Schläuchen die Transfusion des „Schönen“ aus einem Landschaftsbild in drei Särge. Doch ihre wörtliche Inszenierung des Ausstiegs aus dem Bild in die Welt der Objektkunst bleibt in einer plakativen Geste stecken, die Kunst samt Kontext fröhlich zu Grabe trägt. Das bleibt, trotz aller skurrilen Doppelbödigkeit, rückwärtsgewandt.

Geboren zwischen 1929 und 1968 umfaßt die Szene der ausgewählten Moskauer Konzeptualisten mehrere Generationen. Topographisch spannt sich ihr Netz bis nach Paris, New York, Jerusalem. Prag, erste Station der Ausstellung, und Berlin bilden weitere Knotenpunkte. Trotz der Entfernung hält sie etwas zusammen, als ob sie die Rollen in einem geheimen Stück verabreden würden. Eine Prise von Verschwörung. Katrin Bettina Müller

„Flug, Entfernung, Verschwinden“. Bis 3. März im Haus am Waldsee, Berlin. Katalog 35 DM