■ Buchtip
: Boheme in Moskau

Die Liebe – oder vielmehr das Begehren –, der Tod und die unaufhaltsam verrinnende Zeit bestimmen Luba Jurgensohns Roman „Der Papiersoldat“. Je mehr sich der Leser auf das Gespinst der Beziehungen der Künstler und Poeten im Moskau der siebziger Jahre einläßt, desto deutlicher werden die Strukturen eines Spiels mit Gegenwart und Vergangenheit, in dem die Zukunft kaum einen Platz einnimmt.

Wenn der Dichter Ruben Rosenwald sich und die Realität vergißt und sich in eine Beziehung mit dem jungen Mädchen Katja verliert, stößt er die Tür zu einer anderen Welt auf, die sich beiden zufällig, vielleicht irrtümlich geöffnet hat. Das erinnert an Vladimir Nabokovs „Transparent Things“, aber auch an das eigentümlich Schwebende der Erzählungen von Marguerite Duras.

Luba Jurgensohn schafft im „Papiersoldaten“ eine Atmosphäre, in der die Wirklichkeit zwar nicht ausgeklammert wird. Aber auf der Folie von schmuddeligen Hinterhöfen und verlotterten Ateliers, ehemals bürgerlichen Wohnstuben mit Relikten einer vergangenen Zeit, entsteht eine zweite Welt der Gedanken und Gefühle. Was sich in den Köpfen der Agierenden zusammenbraut, schlägt sich konkret im Ausleben sexueller Begierden nieder: seien es die verschwiegenen Treffen Rubens mit Katja, sei es die homosexuelle Erfüllung, die der Maler Wladimir sich in öffentlichen Pissoirs gönnt.

Die Autorin wurde 1958 in Moskau geboren, kam mit 17 Jahren nach Paris, schreibt französisch und übersetzt aus dem Russischen; 1981 erschien ihr erster Roman „Avoir sommeil“ bei Gallimard. „Le Soldat de Papiers“ ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Das Spiel mit der Spirale der Zeit, dem sich nicht nur Ruben und Wladimir hingeben, treiben auch die anderen Personen des Romans; kaum ein Dialog, kaum eine Szene bleibt vordergründig. Was offen gesagt wird, wird zugleich aus der Innensicht beleuchtet, die Erzählerin seziert ihre Personen und setzt das analytische Skalpell an. Katja ist keine Lolita, kein Irrwisch, der den unbesonnenen Ruben verführt, und dennoch entsteht der Eindruck, daß sie es ist, die mit sehr viel mehr Kalkül als ihr Liebhaber an diese Beziehung herangeht. Wohlbehütet von Frauen, die Wert auf Katjas solide Schul- und Universitätskarriere legen, ist sie es denn auch, die zwar nicht ganz unbeschadet, aber doch mit dem Leben davonkommt.

Ruben aber „beugt sich vor und läßt sich ganz plötzlich ins Leere fallen“ – sein Selbstmord, der Versuch, ihn zu retten und sein langsames Sterben im Krankenhaus machen deutlich, daß er über dieser vor allen verschwiegenen Liebe zu Katja nicht mehr in die Realität zurückfinden kann.Monika Carbe

Luba Jurgensohn: „Der Papiersoldat“. Roman. Aus dem Französischen von Michael von Killisch- Horn. Beck und Glückler, Freiburg 1994