The best of Bremen

■ Zum Schreien komisch, surreal, minimalistisch: Input '96 mit Tanz- und Theatergruppen aus Bremen zeigt, welches Potential in der freien Szene steckt.

Im legendären Concordia, das zum Bremer Theater gehört, spielten die freien Tanz- und Theatergruppen aus Bremen und umzu: eine Bestandsaufnahme der künstlerischen Highlights der freien Theater der Stadt. Die taz zieht in einer gänzlich zufälligen Auswahl einen Schlußstrich unter das am Wochenende zu Ende gegangenen Festival.

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Würden sie diesen Mann zum Essen einladen? Zum königlichen Festessen in einem schottischen Schloß? Wie ein Wüterich rast er durch den Raum, der weinrote Morgenmantel steht offen, zeigt unter behaartem Bauch weiße Unterhosen, dunkle ungekämmte Harre hängen ihm ins Gesicht. Soviel ist schon klar als Armin Dallapiccola noch keine zehn Minuten auf der Bühne ist, dies ist kein Fall für die Gästeliste, sondern höchstens für das Gelage danach. Er hat alles schon hinter sich: die Kriege, die Niederlagen und auch alle denkbaren Shakespeare-Interpretationen. Dieser „Macbeth“ der Gruppe Lubricat hält sich weder an Shakespeares Original Text noch bürstet er das Stück modisch gegen den Strich. Hier legt der König nur noch die Rüstung ab. Erkennbar ist die Tragödie von Schottlands wahnsinnigem König nur noch im Skelett. Die großen Schlachten sind zusammengeschrumpft, zu den Kleinkriegen in der Privatsphäre.

Man sitzt zu Tisch, die Töchter (Miriam Fiordeponti und Annette Hildebrand) trommeln mit den Fingern und bringen das Publikum durch Schrulligkeiten beim Warten auf den wildgewordenen Vater zum Kichern. Den gibt Armin Dallapiccola als eine Mischung aus Gerard Depardieu und Harvey Keitel. Höchst semiotisch verrätselt auch die Rolle des Sohnes (Niels Bormann): Er trägt einen famos häßlichen Pullover auf dem „Scottland“ zu lesen steht, kellnert, raucht und erzählt wieder und wieder die Geschichte von der Ermordung des Vaters. Doch der scheint, von den Toten auferstanden, durchaus in der Lage sich in Szene zu setzen, und ein Höchstmaß an Vernügen für sich selbst und das Publikum zu produzieren. Wie Macbeth am Rande des Festmahls erst die Finger, und bald die ganze Hand in einer Honigmelone versenkt und rythmisch zustoßend ihr Fruchtfleisch verspritzt, das wird an lustvoll-obszönen Bühnen-Ersatzhandlung noch lange seinesgleichen suchen.

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„Stellen Sie sich die Ratlosigkeit eines Menschen außerhalb von Zeit und Raum vor, der seine Uhr, sein Metermaß und seine Stimmgabel verloren hat. Ich glaube, mein Herr, dies ist der Zustand des Todes.“ Spricht Pataphysiker Dr. Faustroll in Alfred Jarrys „Heldentaten und Lehren des Dr. Faustroll“. Pataphysiker? Ein solcher darf sich – frei nach Jarry – schimpfen, wer sich über die Metaphysik so weit erhebt, wie diese über die Physik. Jarrys Text skurril zu nennen, wäre zu kurz gegriffen.

Horst Mühlberger gibt sich damit nicht zufrieden. Für sein Tanzstück „Raum Zeit“ brachte er den Doktor (Marcel Wagner) auf die Bühne und gesellte ihm zwei Tänzerinnen (Barbara Fuchs, Birgit Freitag) zur Seite. Eine choreographische Unterstreichung der Antipoden des thesenspuckenden Doktors und der stummen, das Weiblich-weiche verkörpernden Tänzerinnen. Dekoration: eine rollbare Wand aus Metall, gebaut aus durchlässigen Eisenwürfeln, durch die die beiden – gleichsam das Raum-Zeit-Kontinuum ständig mühelos durchbrechend – hüber und nüber wechseln. Ein stimmiges Bild zu stimmigen Klängen. In eine Ecke etwas abseits der Bühne hat Reinhart Hammerschmidt seinen Kontrabaß gestellt. Was Hammerschmidt – in eine Art Kimono gehüllt, rauschebärtig und unbewegten Blicks – seinem Instrument, verfremdet durch ein paar vorgeschaltete elektronische Bauteile, an Klängen entlockt, ist grandios. Zu tranceartigen, spröde-perkussiven Rhythmen bewegen sich die zwei Tänzerinnen, tragen die Stahlwürfel-Wand lego-artig mal in Schichten ab, bauen das metallische Klappern aneinanderstoßender Würfel in die Choreographie ein – und Dr. Faustroll gibt seinen meta- bis pataphysischen Senf dazu. Von Horst Mühlberger stammen Idee, Konzept und das Licht für „Raum Zeit“, das im „Concordia“ einen adäquaten Aufführungsrahmen gefunden hat.

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Dicht, ganz dicht ist das Publikum an den Dreien dran. An den Protagonisten aus Jean Genets Knast-Drama „Unter Aufsicht“ – jenem stark autobiographisch gefärbten Frühstück des umstrittenen Parisers, in dem dieser eine künstliche Gegenwelt zur bestehenden Gesellschaft aufbaut, eine Gegenwelt mit eigenem Wertesystem. „Auge“, ein verurteilter Mörder, ist der Bewunderte in der Zelle und im ganzen Gefängnis; Maurice scheint eines Tages einmal in seine Fußstapfen treten zu können“, während sich der Gelegenheitsdieb Louis verzweifelt darum bemüht, in die Kaste der großen Verbrecher aufgenommen zu werden. Doch Louis bleibt ein Ausgestoßener, selbst als er Maurice tötet – um „Auge“ zu imponieren.

Die Darstellung einer Gegenwelt in extremen Situationen, die Verquickung von Gewalt und Liebe und, insgesamt, die Psychologie der Figuren: das war es, was das Theater Satyricon an diesem Stoff so reizte. Und: Die erst vor gut eineinhalb Jahren gegründete Bremer Truppe schafft es, die Intensität von Genets Vorlage auf die Bühne des Concordia zu transportieren.

Überhaupt gibt sich das Theater Satyricon in der Inszenierung von Hendrik Schröder äußerst minimalistisch. Zur Bühnengestaltung zählen drei Pritschen. Eben soviele Decken und besagte Tür. Auf inszenatorischen Schnickschnack wird gänzlich verzichtet, vielmehr vertraut man sich völlig dem Stück mit seinen beeindruckenden Dialogen an. Regisseur Schröder übernahm „ziemlich exakt den Text der Vorlage“ (Ensemblesprecher Stefan Bertold). Dies Rezept ging auf, weil er die entsprechenden Schauspieler zur Verfügung standen: Schauspieler, die die schwere Last der Rollen zu tragen imstande sind. Allen voran Dirk Rademacher beeindruckt als zwischen den Welten hin- und hergerissener Louis, agiert in manchen Szenen wie ein Fröbe in schwarz-weißen Glanzzeiten: Eine bei einer Länge von 75 Minuten gelungene Inszenierung von einer Theatergruppe, die der Bremer Kulturlandschaft auch langfristig Bereicherung verspricht.

rau/Mu/cr