Ein sehr bürgerlicher Bürgerkrieg

Wenn Gewalt endlos weitergeht, muß sie jemandem nützen. Das Leiden der Menschen von Sierra Leone macht deutlich, daß in Zeiten wirtschaftlicher Not der Krieg oft die einfachste Form des Unternehmertums und der Selbsthilfe ist  ■ Von David Keen

Zeitgenössische Bürgerkriege in Afrika weichen vom traditionellen Modell ab, in dem die Zivilbevölkerung dem Wettkampf zweier professioneller Teams zuschaut. Allzuoft reagieren Journalisten und andere Beobachter darauf mit einer Flucht in Begriffe wie „sinnlose Gewalt“ und „Chaos“. Krieg, wie Krankheit oder Wahnsinn, gilt dann als Merkmal eines Zusammenbruchs, in dem wenige oder auch gar keine Vorteile zu erkennen sind. Nebenbei sei jedoch angemerkt, daß Fortschritte in der Erforschung und Behandlung ansteckender Krankheiten mit der Erkenntnis einhergingen, daß Krankheit nicht einfach den Zusammenbruch eines Systems bedeutet, sondern einen Wettstreit zwischen Organismen. Anders gesagt: Krankheit hat nicht nur Ursachen, sondern auch Funktionen. Was dem Körper schadet, mag dem Virus nützen.

Gewalt mag der langfristigen Gesundheit der Nation schaden, aber dem Wohlergehen gewisser Gruppen innerhalb der Nation nützen. Warum sollten Kriege je entstehen und andauern, wenn sie – wie oft behauptet – allgemein katastrophal wären? Und es sollte auch nicht angenommen werden, daß das einzige Ziel der Kriegsteilnehmer im Sieg besteht.

Nehmen wir den Fall Sierra Leone, von wo ich kürzlich zurückgekehrt bin. Im Süden und Osten des Landes brach 1991 Krieg aus. Die anfängliche Bedrohung erschien gering – eine ziemlich kleine Anzahl von Rebellen mit Unterstützung der Gruppe von Charles Taylor in Liberia und Söldnern aus Burkina Faso. Fast alle Sierraleoner, mit denen ich gesprochen habe, meinten, die Bedrohung hätte im Keim erstickt werden können, wenn die Regierung ihr systematisch etwas entgegengesetzt hätte. Die meisten meinen, das sei immer noch möglich.

Doch die Rebellen stießen auf eine Gesellschaft, in der wesentliche Gruppen zu Gewalt bereit waren, um ihre Ziele zu fördern. Die Beschuldigung, jemand sei Rebell oder Kollaborateur, wurde rasch zu einem Mittel, politische, wirtschaftliche und zuweilen sexuelle Streitereien auszuführen. Unmut gegenüber den von der korrupten Regierung eingesetzten Stammeschefs war weit verbreitet. Dazu kam die Vernachlässigung des Südens durch die Regierung, wo die Misere des Gesundheitswesens und der sanitären Bedingungen die Lebenserwartung bis 1987 auf erstaunliche 21 Jahre reduziert hatte.

In den entwickelteren Gebieten um Sierra Leones Rutilminen, die 40 Prozent der Exporterlöse des Landes erwirtschaften, scheint Groll über die Lohnstrukturen Anfang 1995 Überfälle durch Bewaffnete – darunter ehemalige Beschäftigte – begünstigt zu haben, die die Minen lahmlegten. Das Bildungswesen hat seit Mitte der 80er Jahre im ganzen Land unter staatlichen Ausgabenkürzungen und Hyperinflation gelitten, Folgen einer erzwungenen Währungsabwertung innerhalb eines Strukturanpassungsprogramms. Lehrer schwänzten, um nach Wegen zu suchen, ihre zunehmend unzureichenden Gehälter aufzubessern. Bücher wurden unbezahlbar. Zu Kriegsbeginn war eine große Zahl von Kindern aus dem Schulsystem herausgefallen.

Die Jugend Sierra Leones labte sich an Bildern westlichen Lebensstils und westlicher Macho-Kulturhelden. Dann erhielt sie in Form von Waffen die Mittel, diese Träume von Konsum und Gewalt zu verwirklichen. Diejenigen, die zu Kriegsbeginn bereits in einem wesentlichen Ausmaß mit ihren Familien gebrochen hatten, waren offenbar besonders gefährdet. Ganz anders als im geläufigen Bild afrikanischer Gewalt als irgendwie exotisch, scheint die Gewalt in Sierra Leone viel mit der in New York oder Washington gemein zu haben. Die Grenze zwischen Krieg und Kriminalität ist zunehmend unklar. Der weitere Zusammenbruch des Bildungswesens im Laufe des Krieges kann weitere Konflikte nur begünstigen.

In der zweiten Jahreshälfte 1991 gewannen Regierungskräfte die Oberhand. Sie stoppten die Rebellen im Osten und drängten sie im Süden nach Liberia zurück. Die Regierung hatte Truppen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Ecowas) angefordert, dazu liberianische Freischärler unter dem Namen „Ulimo“ (Vereinigte liberianische Bewegung für Demokratie) und eine große Zahl Sierraleoner, darunter viele Kinder, manche von ihnen nur acht Jahre alt. Die Ulimo-Truppen waren für viele Greueltaten verantwortlich und folgten bald ihren eigenen Prioritäten. 1994 wurden sie demobilisiert, als die Regierung Sierra Leones den Eindruck einer Verpflichtung zum Frieden erwecken wollte, aber nun sind sie wieder neu mobilisiert worden – teils aus der Angst der Regierung, daß unbeschäftigte Ulimo-Truppen in der Hauptstadt Freetown Schwierigkeiten machen könnten.

Viele der Kindersoldaten in der Regierungsarmee waren Straßenkinder aus Freetown. Vor ihrer Rekrutierung begingen sie kleine Diebstähle. Dann gab man ihnen eine AK-47 und eine Chance zum Diebstahl in größerem Ausmaß. Die Regierungsarmee wuchs von 3.000 auf rund 14.000 Mann. Da die Regierung unter Druck war, ihre Ausgaben zu reduzieren, blieben die Militärausgaben in Sierra Leone erstaunlich niedrig. Regierungssoldaten erhielten fast gar keinen Sold, und dies ermunterte sie, ihre geringen Einkommen durch Plünderungen aufzubessern. Es ermunterte auch eine Gruppe Soldaten, im April 1992 nach Freetown zu reisen und zu putschen, die alte APC-Regierung zu stürzen und ein Militärregime unter dem Namen NPRC einzusetzen. Die NPRC wiederholte, sie sei der Beendigung des Krieges verpflichtet. Aber das geschah nicht.

Die Erklärung für dieses Scheitern enthüllt den Kern der Gewaltfrage in Ländern wie Sierra Leone. Es scheint, daß in manchen Regionen Afrikas nicht nur normale Regierungsabteilungen privatisiert worden sind, sondern der Krieg selbst. Anders gesagt: Regierungen ohne Geld wollen Kosten verringern und Unterstützer belohnen, indem sie das Recht zur Gewaltausübung und Güteraneignung delegieren. Im Sudan nimmt das zum Beispiel die Form an, bestimmten ethnischen Gruppen das Recht zu gewähren, andere zu überfallen. In Sierra Leone ist die ethnische Dimension nicht so klar, obwohl die Angriffe auf Zivilisten von Regierungssoldaten und Rebellenkämpfern aus verschiedenen Ethnien hauptsächlich gegen das Mende-Volk gerichtet sind. Die Mende, wie die Dinka im Südsudan, leben auf überdurchschnittlich fruchtbarem und mineralienreichem Land, aber ihnen fehlen die politischen Verbindungen, die es ihnen ermöglichen würden, diese Ressourcen vor wenig oder gar nicht bezahlten Kämpfern zu schützen.

Eine Folge dieser Strategie des Billigkrieges ist, daß der Krieg sein Gesicht verändert. Für die Mehrheit der Teilnehmer besteht der Zweck des Krieges weniger darin, zu gewinnen, als Geld zu verdienen, solange er andauert – und sicherzustellen, daß er lange genug dauert, um die Anhäufung von Reichtümern zu erlauben. Im Sudan haben Offiziere der Regierungsarmee, die von kriegsbedingten Güterknappheiten und ihrer eigenen effektiven Kontrolle über die Hilfslieferungen profitieren, offenbar ein Interesse an der Verlängerung des Krieges. In Sierra Leone hat die Regierung einen Teil ihrer Kriegsführung an eine Privatfirma aus Südafrika delegiert, „Executive Outcomes“. Nicht nur waren Regierungskräfte stark an illegalem Diamantenschürfen und -export beteiligt – sie haben auch in einer Weise gehandelt, die auf eine Verlängerung des Krieges zu zielen scheint. Den Krieg andauern zu lassen verzögert nicht nur den Zeitpunkt, der Wahlen und die Beendigung der Militärherrschaft möglich macht; es läßt auch zu, daß Soldaten in ressourcenreichen Regionen stationiert bleiben. Zudem scheinen manche Soldaten die Rebellen zu unterstützen oder sich wie Rebellen zu benehmen, um gegen ihren Ausschluß vom Löwenanteil der Plünderungen und der wegen des Krieges hereinströmenden internationalen Hilfe zu protestieren.

Mehrfach waren Regierungssoldaten in Sierra Leone daran beteiligt, Waffen und Munition an die Rebellen zu verkaufen, die sie angeblich bekämpfen. Ein häufiges Muster – in Sierra Leone „sell- game“ genannt – besteht darin, daß Regierungssoldaten sich aus einem Ort zurückziehen und ihre Waffen und Munition zurücklassen. Die Rebellen holen sich die Waffen, nehmen den Ortsbewohnern Geld ab und ziehen sich ihrerseits zurück. Dann besetzen die Regierungskräfte den Ort wieder und plündern selbst – sie nehmen meist Gebrauchsgegenstände, mit denen die Rebellen mangels Verkaufsmöglichkeiten wenig anfangen können.

Verkompliziert wird die Lage dadurch, daß die sogenannten Rebellen oft selbst Regierungssoldaten sind, die das mit den Rebellen assoziierte rote Halstuch tragen. Angebliche Rebellenangriffe folgen oft kurz auf das Verschwinden

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von Regierungssoldaten aus nahegelegenen Kasernen. Und wenn Regierungssoldaten in neue Uniformen gesteckt wurden, haben die sogenannten Rebellen sehr schnell dieselben neuen Uniformen getragen. Regierungssoldaten und Rebellen teilen ein Interesse nicht nur in der Aneignung von Plünderungsgütern, sondern auch in der Erweckung des Eindrucks, die Rebellen seien mächtig.

Das ganze Possenspiel wird oft von Versuchen der Regierung begleitet, aus dem umkämpften Gebiet die Zivilbevölkerung zu evakuieren. Nahezu die gesamte Bevölkerung eines an Diamanten und Kaffee reichen Süddistrikts ist durch die Kombination von Rebellen- und Regierungsaktionen zwangsweise in Städte getrieben worden. Andernorts haben Regierungskräfte die angebliche Bedrohung durch Rebellen dazu genutzt, Zivilisten zu verängstigen und zur Duldung ausbeuterischen Diamantenschürfens zu zwingen. Die UNO, die üblicherweise bei Regierungsübergriffen wegschaut, beharrt darauf, dies kriegsbedingte Bevölkerungsbewegungen zu nennen. Doch viele Sierraleoner sehen solche Evakuierungen als eine Art Joint-venture zwischen Regierung und Rebellen, um ressourcenreiche Gebiete zu entvölkern. In manchen Dörfern des Distrikts Kailahan gibt es zwei Markttage – einen der Rebellen und einen der Regierungssoldaten. Es ist ein sehr bürgerlicher Bürgerkrieg, außer wenn man einer der Bürger ist, dessen Leben in Gefahr ist und mit dessen Eigentum da gehandelt wird.

Die Anzahl richtiger Schlachten zwischen richtigen bewaffneten Einheiten in diesem Krieg ist sehr gering, und sie beschränken sich fast ausschließlich auf die diamantenreichen Gebiete. Die überwiegende Mehrheit von Gewaltakten richtet sich gegen unbewaffnete Zivilisten. Nach Augenzeugenberichten wurden die Überfälle, die zur Schließung der Rutilminen führten, mit der Komplizenschaft der Regierungstruppen begangen. Die Ausfuhr von Diamanten, Kaffee und Kakao ist während des Bürgerkrieges in Sierra Leone weitergegangen.

Für den außenstehenden Beobachter – und dies schließt viele Leute ein, die in den Luftblasen ihrer Organisationen in Freetown leben – scheint der Krieg außerhalb der Hauptstadt tatsächlich in eine Art Chaos degeneriert zu sein; man beachte die wachsende Anzahl von bewaffneten Gruppen, die vielen Greueltaten und die völlige Konfusion darüber, wer ein Rebell ist und wer ein Regierungssoldat. Aber der Anschein des Chaos täuscht. Er entspringt dem westlichen Kriegsbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts: Danach stellt der Krieg eine Gelegenheit dar, im Namen des Nationalstaates das eigene Leben aufs Spiel zu setzen ohne die Gewißheit, davon finanziell zu profitieren. Um Leute zu einem solchen Handeln zu bringen, sind Monate Gehirnwäsche notwendig und auch ein gewisses Ausmaß an ritueller Erniedrigung des Individuums. Möglicherweise erscheint es sinnvoller, einen Krieg zu führen, in dem man Schlachten vermeidet, statt dessen unbewaffnete Zivilisten angreift und vielleicht irgendwann einen Mercedes erbeutet. Für die Kindersoldaten, mit denen ich in Sierra Leone gesprochen habe, gibt es wenig Aussicht auf einen solchen Lohn, aber auch sie hatten vernünftige Gründe, sich zu beteiligen. Typischerweise war es eine Kombination von Zwang, Hunger und der Angst, als Rebellen oder Kollaborateure der Regierung zu gelten, wenn sie vor Kriegshandlungen in fremde Dörfer fliehen.

Im allgemeinen Mißtrauen gegenüber der Regierung nehmen viele Menschen ihre Sicherheit in die eigenen Hände. In den überfüllten Vorstädten von Freetown gibt es Selbstverteidigungskräfte: Die einzelnen Haushalte legen Geld und Menschen zusammen, um sich gegen die doppelte Bedrohung durch Rebellen und Regierungssoldaten zu stellen. In der Stadt Bo haben die Selbstverteidigungskräfte sich direkt mit dem Militär um die Kontrolle der Stadt gestritten, vor allem um die nächtliche Kontrolle. Es muß einer der sehr wenigen Orte sein, in denen das Militär und nicht die Zivilbevölkerung einer nächtlichen Ausgangssperre unterliegt. Viele Menschen in Sierra Leone wünschen sich Selbstverteidigungskomitees, organisiert auf der Basis traditioneller Stammesfürstentümer, die von den Regierungstruppen die Verantwortung zur Verteidigung ländlicher Gebiete übernehmen. Diese Komitees werden Unterstützung von außen brauchen. Truppen aus Guinea und Nigeria, die derzeit in Sierra Leone stationiert sind, genießen allgemein Respekt und Vertrauen, und viele Sierraleoner würden es begrüßen, wenn ausländische Truppen die Lebensmittelkonvois begleiten, die zur Zeit von den eigenen Regierungssoldaten „beschützt“ und zuweilen angegriffen werden.

Inzwischen sind die Anfänge einer ausgedehnten Hungersnot zu verzeichnen, da die Menschen in städtische Bereiche gepfercht werden und aus Angst ihre fruchtbaren Böden nicht mehr kultivieren. Die Konzentration von Hilfsgütern auf Freetown ist ein Ergebnis der Unsicherheit und der Gewalt, aber sie stellt einen wichtigen zusätzlichen Nutzen für jene Elemente der Regierung dar, die in der Lage sind, einen eigenen Anteil abzusahnen. Ein erfahrener Hilfsarbeiter sagt: „Die EU stellt Stromversorgung und Straßen zur Verfügung. Damit ermöglichen sie der Regierung, gut dazustehen. Es ist ein einziger Betrug. Und die Regierungstruppen schlagen einfach wahllos zu. Die Unicef spricht von Jodsalzlösungen, während das ganze Land brennt.“

R „The Times Literary Supplement“

Aus dem Englischen von Dominic Johnson