Das Rückgrat für DDR-Bürger

Sie fotografiert Libellen und macht dröge Bürgerversammlungen zu Ein-Frau-Shows: Heidrun Heidecke, grüne ostdeutsche Umweltministerin von Sachsen-Anhalt, heimst sogar von CDU-Kollegen Lob ein  ■ Von Toralf Staud

Der Saal des Wulferstedter Dorfkrugs ist rammelvoll. Unter der Decke hängen noch die bunten Silvestergirlanden, an der Stirnseite ist ein Podium aufgebaut. Aufgeputzte Leute sitzen an langen Tischreihen, an jedem zweiten Platz liegen Landkarten der Umgebung. Große Flächen sind darauf schraffiert. Finger wandern über das Papier, Köpfe werden geschüttelt, Flüche ausgestoßen. Das 900-Seelen-Dorf in der sachsen- anhaltinischen Provinz kämpft gegen eine riesige Kiesgrube, und Heidrun Heidecke kämpft mit. Heute abend will sie der örtlichen Bürgerinitiative Mut machen.

Als einzige Frau sitzt sie zusammen mit sieben Männern vorn auf dem Podium. Zwischen den massigen Bauern und Lokalpolitikern wirkt die schlanke Ministerin noch schmächtiger als sonst. Bei der Begrüßung rutscht dem Chef der Bürgerinitiative ein „Liebe Frau Hildebrandt“ raus. Frau Heidecke kichert. Sie ist der aufgedrehten Sozialministerin von Brandenburg in der Tat ähnlich, nur 13 Jahre jünger – und nicht ganz so schrill.

Heidrun Heidecke, 41, macht die dreistündige Bürgerversammlung zur Ein-Frau-Show. Sie spricht schnell und in einer Lautstärke, die man ihr kaum zutraut. Die rechte Hand in der Hosentasche, in der linken das Blatt Papier mit ein paar Stichworten, pendelt sie zwischen Podium und Polylux- Projektor.

Sie skizziert die Folgen der Kiesförderung für das Grundwasser, erklärt – klein klein – das ostdeutsche Bergrecht, lobt die Leute für ihre Unterschriftensammlung, hetzt sie auf Bonn und fordert zum Kauf von Sperrgrundstücken auf. „Verraten Sie uns auch die illegalen Mittel!“ tönt ein Zwischenrufer aus dem Publikum. Da grinst die Ministerin kurz und winkt ab. „Nee, nee.“

Die Radikalität steht zurück, seit Heidrun Heidecke vor anderthalb Jahren das Umweltressort in der rot-grünen Regierung von Sachsen-Anhalt übernommen hat. „Ich muß mir jetzt genauer überlegen, was ich sage“, bedauert sie. „Das juckt manchmal.“ In Morsleben über den Zaun klettern, so wie früher als Landtagsabgeordnete, geht heute schon von der Kleidung her nicht mehr – Jeans und Parka sind eleganten Kostümen und Stoffhosen in gedeckten Farben gewichen. Zumindest im Dienst. Die einstigen Strubbelhaare sind zu einer ordentlichen Kurzhaarfrisur gefönt, und ab und zu peppt ein bißchen Schminke das herbe Gesicht auf.

Ministerinsein macht Heidrun Heidecke Spaß, trotz all der Fesseln. Sie fühle sich wohl am Kabinettstisch, auch wenn sie dort die einzige Grüne ist. „Wenn das nicht so wäre, würde ich sofort aufhören.“ Klar, sie müsse Kompromisse machen, doch verbiegen lasse sie sich nicht, eher steige sie aus. „Wenn die SPD mit einem Male findet, die Atomkraft ist akzeptabel, wäre das für mich ein Grund.“ Um bei ihren Entscheidungen den Bodenkontakt nicht zu verlieren, hat Heidrun Heidecke ein paar Sicherungsleinen gespannt. Regelmäßig fährt sie zu den Sitzungen des grünen Landesdelegiertenrates, besucht die Kreisverbände.

Wirkliche Konflikte gebe es im Kabinett kaum, man akzeptiere sich gegenseitig, sagt Heidecke. Und daß sie gut feilschen kann, haben die rot-grünen Koalitionsverhandlungen gezeigt: Der fertige Vertrag sah eher grün-rot aus.

Wunderbar verstehe sie sich mit Ministerpräsident Höppner, vier Jahre Arbeit in der Opposition „haben zusammengeschweißt“. „Ich brauche Reinhard bloß ins Gesicht zu schauen und weiß genau, was los ist“, erzählt sie und grinst. „Ich geh' dann mit ihm in sein Arbeitszimmer, er raucht eine Pfeife, ich eine Zigarette, wir trinken Kaffee, reden. Da lösen sich die Probleme.“ In der konkreten Regierungsarbeit sei von dem Koalitionsvertrag nicht viel übriggeblieben, kritisieren grüne Basisinitiativen. Während Heidrun Heidecke auf ihrem Amtsstuhl sitzt, wird in Morsleben noch immer Atommüll abgekippt, ist die Bundeswehr in die Colbitz-Letzlinger Heide eingezogen, wird die Südharzautobahn doch gebaut, macht die Gentechnikindustrie in Sachsen-Anhalt Freilandversuche, laufen die Planungen für die Kanalisierung von Elbe und Saale weiter, wird die ICE- Trasse Halle-Erfurt durch Flußauen geholzt.

Zwar könnte sie sich „hinstellen und zetern“. Doch letztlich „macht der Bund doch, was er will“. Sie konzentriere ihre Kräfte lieber dort, wo es landespolitische Spielräume gibt, meint Heidrun Heidecke und zählt Erfolge auf: In der Müllpolitik habe es ein Umsteuern gegeben, eine Reihe von neuen Schutzgebieten sei ausgewiesen, Umweltverbände bekämen jetzt das Doppelte an Zuschüssen wie früher. Viele kleine Projekte – Windkraftanlagen, regionales Wirtschaften – seien angeschoben. Für richtig große Sprünge fehlt das Geld.

Rufe nach mehr Schärfe wehrt Heidrun Heidecke ab: „Ich lasse mich nicht in aussichtslosen Sachen verheizen.“ Zu Morsleben setzt sie statt auf teure und, ihrer Meinung nach, chancenlose Klagen eher auf Nadelstiche in Richtung Bonn. Bewußt arbeitet die Ministerin mit ihrer Prominenz: Kaum eine grüne Protestveranstaltung in Sachsen-Anhalt, auf der sie nicht ist. Doch bei Autobahn und ICE „kann ich nur noch hoffen, daß die Knete knapp wird“. Die Planungen seien bei ihrem Amtsantritt einfach schon zu weit gewesen. „Ja, wenn wir 1990 an die Macht gekommen wären...“

„Vielleicht hatten wir zu hohe Erwartungen“, meint Helene Helm vom Naturschutzbund und Grünen-Kreisverband Zeitz. Sie kennt Heidrun Heidecke lange und sagt: „Als engagierte Landtagsabgeordnete war sie mir lieber.“ Bei allen Sachen, wo Heidecke früher noch dagegen war, höre sie von der Ministerin heute nur lapidar, man müsse sich an die Gesetze halten. „Sie hat den Leuten früher zuviel gesagt, was machbar ist“, meint Matthias Weiland, der jetzige umweltpolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion. Die hohen Erwartungen seien ihr beim Amtsantritt „auf die Füße gefallen“.

Daraus hat Heidrun Heidecke gelernt. Den Wulferstedter Bürgern gibt sie im Laufe des Abends kein einziges Verspre-

chen. Die Ministerin erklärt, daß sie als Landespolitikerin wenig Einfluß auf den Kiesabbau hat, daß sie nur ein paar Verordnungen ändern kann, daß Bonn das Bergrecht ändern müßte, daß ihre dahingehende Bundesratsinitiative aber wenig Aussicht auf Erfolg hat.

Leger zurückgelehnt sitzt Heidrun Heidecke auf dem Podium, die Beine übereinandergeschlagen – Bürgerversammlungen machen ihr Spaß. Zufrieden hört sie, wie sich die Bürger in Rage reden. Sie schaut betont ernst, als eine Dorflyrikerin kämpferisch ihr „Kiesgedicht“ vorträgt, tuschelt ab und an mitihrem Tischnachbarn. Wenn die Ministerin etwas sagen will, reckt sie den rechten Arm in die Höhe und schnipst ungeduldig mit den Fingern wie eine Schülerin. Manchmal kann sie sich einen Zwischenruf nicht verkneifen, so wie damals, als sie noch im Landtag saß.

Heidrun Heidecke freut sich über die Empörung, nutzt sie aber nicht aus. Die Dorfbewohner kriegen zu hören, daß sie gefälligst auch gegen Autobahnen und Umgehungsstraßen den Mund aufmachen müssen, wenn sie gegen Kiesabbau sind. Der Saal reagiert erst mit Gemurmel, dann aber doch mit Applaus für die unbequeme Ministerin.

Mit ihrer Art hat sie am selben Tag ein paar Studenten der Fachhochschule Magdeburg regelrecht verschreckt. Sie wollten in einem „Wasser Generationenvertrag“ Forderungen stellen. Heidrun Heidecke konterte: „Ich dachte bis jetzt immer, bei einem Vertrag müssen zwei Seiten was machen.“ Sie verlangte von den Studenten, mehr zu tun, als nur zu studieren und zu forschen, forderte eine Änderung ihrer Lebensweise. Heidrun Heidecke erklärte ihre Kompetenzen und entgegnete, als ihr eine Studentin sagte, sie rede sich nur heraus: „Sorgen Sie 1998 für die richtige Mehrheit in Bonn, dann wird's besser!“

Darauf, und daß sie dann noch im Amt ist, hofft Heidrun Heidecke sehnlichst. Sehr pädagogisch war der Auftritt der Exlehrerin nicht, die Studenten waren enttäuscht. „Die sollte mal dankbar sein, daß wir uns engagieren“, meinte hinterher eine von ihnen.

Ist Heidrun Heidecke auch, nur hält sie eben nichts von Schulterklopfen.

Die Ministerin ist angesehen auf allen Seiten, fast mehr, als sich schickt. Ihre Fachkompetenz lobt sogar Manfred Wulfert, der umweltpolitische Sprecher der CDU- Fraktion. Und PDS-Mann Volker Lüderitz kann sich „im Moment keine bessere Umweltministerin“ vorstellen. Ein bißchen „zögerlich“ sei sie geworden, von einigen alten Forderungen abgerückt, aber: „Gemessen an den Verhältnissen, unter denen sie arbeitet, hält sie sich gut.“

Seit Heidrun Heidecke ihr Ministeramt antrat, frißt sie sich durch einen unglaublichen Berg Arbeit. Jeder halbwegs wichtige Brief, der das Ministerium verläßt, geht über Heideckes Tisch, über fast alle Vorgänge ist sie auf dem laufenden. Nur wenige Posten hat die Ministerin neu besetzt. Zum einen gibt es kaum kompetente Grüne, die die Plätze einnehmen könnten – für die wichtigsten Ämter mußten sogar Leute aus Niedersachsen und Hessen importiert werden. Zum anderen, so Heidecke, fehle das Geld, um unliebsame Beamte in den Ruhestand zu versetzen. „Ich habe einige Leute, die auf meine Kosten spazierengehen. Da ermittelt zum Teil der Staatsanwalt.“

Den größten Teil der alten Angestellten nimmt Heidrun Heidecke aber, wie es sich für eine Ministerin gehört, in Schutz: „Sie sind DDR-Bürger, und auch in den letzten vier Jahren hat man ihnen kein Rückgrat beigebracht.“

Mißtrauisch beäugt wurde die Hierarchiefeindlichkeit der neuen Ministerin: „Alle waren geschockt, daß ich durchs Haus schieße, mich zu den Leuten an den Schreibtisch setze“, erinnert sich Heidecke. Vertrauensbildend wirkte bei den Beamten das Hobby der Ministerin, das sie mit einigen von ihnen gemeinsam hat: Mit dem Fotoapparat auf Libellensafari gehen.

Erschöpft, aber zufrieden sitzt Heidrun Heidecke auf der Rückbank ihres viel zu großen Dienstwagens. Die Bürgerversammlung in Wulferstedt ist vorbei, es geht nach Hause. Amüsiert erzählt sie ihrem Fahrer, wie es war, und steckt sich eine Zigarette an – ihr Versprechen, nach der Vereidigung sei es mit dem Rauchen vorbei, hat sie nicht lange gehalten.

Auf die Kritik von Umweltverbänden und Bürgerinitiativen angesprochen, reagiert Ministerin Heidecke unbeschwert. Radikaler, als sie es ist, dürften, ja müßten die Gruppen sein, „so ist das Rollenspiel“. Sie brauche die scharfen Forderungen geradezu. „Wie sonst soll ich als Ministerin was durchdrücken?“ Sauer werde sie nur bei unsachlichen Angriffen, sagt Heidrun Heidecke. „Die haben erwartet, daß es einen Urknall gibt, wenn eine Grüne Ministerin wird.“

Und selbst? Kurzes Schweigen. Ein ausgiebiger Zug an der HB. „Ich hab' mir das eine oder andere einfacher vorgestellt. Schon vom Zeithorizont her.“ Die Kämpfer an der Basis, sagt sie überzeugt, könnten sich ruhig auf sie verlassen: „Wenn ich denke, es lohnt sich, dann kämpfe ich auch.“ Trotz der bitteren Sachzwänge, die von ihrem Vorgänger und der Bonner Amtskollegin stammten, sei sie zufrieden mit dem, was sie bis heute erreicht habe. Sorgen macht ihr mitunter nur das Abschneiden der Grünen bei der nächsten Landtagswahl: Die Ökos, hat sie dann Angst, könnten zwischen SPD und PDS zerrieben werden.

Ihr größtes Ziel? Selbst Sachzwänge schaffen. „Ich will meine Dinge so weit bringen, daß sie nach mir nicht mehr zu ändern sind.“