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■ SchlaglochGroße Predigten und kleine Schrauben Von Mathias Greffrath

„Das Gespenst der Nutzlosigkeit überschattet heute auch das Leben gebildeter Menschen der Mittelklasse.“

Richard Sennet, amerikanischer Soziologe, „Die Zeit“ 26.1.1996

Ein ganz normales Wochenende: neuer Schnee und festes Eis, zwei Parties und drei Stunden Lesen auf dem Sofa. Folgendes ergab sich: Victor bastelt an einem Buchprojekt, das ihn nicht weiter interessiert, von dem er sich aber eine Million verspricht. Anna hat gerade Aktien von „Miss Saigon“ gekauft, um ihr Alter zu sichern, Esther will selbst ein Musical über Alma Mahler-Werfel schreiben, gleich auf Englisch, um es weltweit zu vermarkten und danach keine Sorgen mehr zu haben. Bruno schaut depressiv in Saxophonkataloge, die Ressortleiterin der großen Überregionalen sagt nach dem zweiten Bier, sie überlege eigentlich auch ständig, wie sie jetzt mal richtig reich werden könne.

Es handelt sich durchweg nicht um erfahrungslose 89er oder um Jungyuppies mit eingebrannter Westerwelle, die so sorgsam an ihrer individualisierten Zukunft arbeiten, sondern um Linke, Linksliberale, Grüne. Nur, das Phantom der Globalisierung hat sich in ihre Seelen geschlichen, die Rentenfrage sich auf ihren Geist gelegt. Die ideologische Aufrüstung beginnt zu greifen. Daß der leitende Vulgärökonom der FAZ das Mutterschaftsgeld abschaffen will, erstaunt uns längst nicht mehr. Schon eher schmerzt es, wenn Joschka Fischer frühresginiert verkündet, „nationale Wirtschaftsräume verlieren endgültig (!) ihr makroökonomisches Steuerungspotential zugunsten der internationalen Finanzmärkte“ und damit die politische Flinte zu früh ins Korn wirft. Oder wenn sein Spiegel-Essay über Sicherung und Umbau des Sozialstaats keinen konstruktiven Streit entzündet, sondern nur Abwehrreaktionen.

Defensive überall. Der sozialdemokratische Reflex – ich habe verloren, also hatte ich Unrecht – funktioniert lähmend gut. Hinter jedem Arbeitsplatz steht ein chinesisches Gespenst, Globalisierung ist ein begrifflicher Totschläger gegen alle Auswegsideen geworden. Und die meinungsbildenden Schichten? Meine Freunde und ich, das angestellte, angestrengt denkende, sinnproduzierende Kleinbürgertum? Wie ist das eigentlich zu erklären, daß selbst Meldungen wie die über die 3.000 Lehrerstellen, die in Berlin gestrichen werden oder die Schließung von zwei Drittel der Bundesbahnlehrlingswerkstätten von uns weitgehend unkommentiert bleiben? Und ohne Reaktion auf der Straße? Alles nur Gewöhnung? Wo wäre in der Debatte um das sogenannte „Bündnis für Arbeit“ eine deutsche Stimme gewesen, ähnlich vernehmbar und ähnlich grundsätzlich wie die Pierre Bourdieus, der zu den streikenden Arbeitern im Gare de Lyon ging, aus dem Bewußtsein heraus, daß nicht „soziale Wohltaten“, sondern demokratische Errungenschaften zur Disposition stehen: der soziale Staat, der Primat der Politik? Alles läuft wie aus einem klassischen Lehrbuch über Mittelschichten in der Krise: Jeder sucht noch schnell seine individuelle Lösung, alle desolidarisieren sich. Die Jungen haben keinen Job, die Alten befestigen die Mauern um ihren und fliegen herum. Es gibt sie noch, die guten Dinge, und am 30. Mai ist der Weltuntergang. Das Vernünftige ist ungangbar, sagt Habermas, und wenn der schon ...

Totstellen nützt wenig. Denn es geht nicht nur um Ökonomie. Die Frage, ob die Gesellschaft in arbeitende Vollbürger, erschwingliche Dienstboten und alimentierte Heloten zerfällt, ist eine Frage, die viele Millionen einzelne existentiell betrifft – und die Zukunft der Demokratie als Lebensform. Die Frage, ob es noch dauerhafte Arbeitsplätze gibt und nicht nur Jobs, tangiert nicht nur Staatsfinanzen, sondern auch die Entwicklung historisch erarbeiteter menschlicher Fähigkeiten: Loyalität zu Institutionen, Verpflichtungen für Menschen und Gegenstände zu spüren, Ziele verfolgen zu können, sich und die Welt wahrzunehmen.

Die öffentliche Bewegungslosigkeit ist erstaunlich, denn fast alles ist bedroht, was europäische Kultur und politische Zivilisation ausmacht. Eigentlich eine Zeit für große Prediger, aber rhetorisch wird nur an kleinen Schrauben gedreht (fünf Stunden hier, zwei Prozent dort), in großem Stil wird nicht gedacht. Wo einzelne es tun, wird es nicht aufgenommen. Walter Riester etwa, der zweite Vorsitzende der IG Metall, fordert unverdrossen neue „Leitbilder der Produktion“: ökologisch verbesserte Verfahren, neue Verkehrssysteme, Umstellung von Energieproduktion auf Spartechnologien, den sozial phantasievollen Umbau der Städte. Das wäre ein erweitertes „Bündnis für Arbeit“; nicht nur für Notverwaltung. „Man muß doch die Jungen für so etwas begeistern“, sagt Riester – aber selbst seine Gewerkschaft findet nicht mehr die Kraft, „so etwas“ ernsthaft und laut zu fordern. „Das öffentliche Klima ist nicht so.“ Die Arbeit – es gab einmal die „Arbeitswelt“ – ist aus dem öffentlichen Klima, soweit die akkreditierten Intellektuellen es machen, verschwunden.

Vereinzelte Amerikaner wie Paul Kennedy kommen auf den Gedanken, ein einiges Europa könne sich ernsthaft die Säuberung des Mittelmeeres oder der Ostsee vornehmen. Wieso drang Delors' Idee, mit dem Bau großer Eisenbahnverbindungen in Osteuropa einen technologischen und nationenverbindenden Impuls zu setzen, nicht durch? Welche Öffentlichkeit hat sie diskutiert?

Morgen wird die Bundesanstalt für Arbeit einen neuen Rekord bekanntgeben. Aber immer noch ist die generelle Arbeitszeitverkürzung kein Thema der öffentlichen Debatte – trotz VW und Brandenburger Lehrer. In Frankfurt pflegen Rentner ehrenamtlich den Palmengarten; aber an die Debatte über öffentliche Arbeiten, über ein soziales Pflichtjahr gar, wagt sich kaum noch ein Kommentator.

Der Verzicht auf eine grundstürmende Debatte über die Zukunft unserer Produktionsgesellschaft ist nicht nur ein politisches Defizit, sondern mittelfristig ein ökonomisch relevantes: Nehmen wir für einen Augenblick irrealerweise an, die Globalisierung werde nicht gebremst – dann wird der ideelle Globalgesamtkonsument in zehn Jahren seine Autos, Kühltruhen und Keramikphantasien aus China beziehen, und auch die arbeitsintensiven Geheimnisse mittelständischer Maschinenbauer aus dem Schwäbischen werden dem malaysischen Konkurrenten nicht verborgen bleiben. Wovon will dieser Exportkontinent Europa dann leben? Was könnte er exportieren außer ganz Neuem?

Das sind doch eigentlich ganz spannende Fragen, und das Neue war doch immer Sache der innovativen Mittelstandsdenker. In der Globalitäts- und in der Produktivitätsrevolution stecken unentdeckte utopische Potentiale. Eine Welt ohne innere Grenzen, mit Mangel an Vernunft und Reichtum an Engpässen – das sind Gegenstände für lange Spaziergänge, Stoff satt für Buchprojekte, Kurzkritiken und lange, schöne Streitereien. Anknüpfungspunkte für Treffen mit jungen Unternehmern und Wiedersehen mit alten Gewerkschaften. Vielleicht sogar für das eine oder andere Musical. Mit Saxophon.

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