KGB-Erben außer Kontrolle

■ Aus Protest gegen die Militarisierung der Gesellschaft löst sich die russische Menschenrechtskommission selbst auf

Moskau (taz) – Die Menschenrechtskommission des russischen Präsidenten Boris Jelzin hat sich praktisch selbst aufgelöst. Nachdem Mitte Januar bereits der Bürgerrechtler Sergej Kowaljow seinen Rücktritt erklärt hatte, gaben nun weitere fünf der insgesamt acht Mitglieder auf. Neben Kowaljow verließen der stellvertretende Vorsitzende Sergej Sirotkin, der Chefredakteur der Zeitung Iswestija, Igor Golembiowskij, und Wjatscheslaw Bachhim, Repräsentant beim „Fonds der Offenen Gesellschaft“, die Kommission. Von der Prominenz harren noch der ehemalige Außenminister Andrej Kosyrew und Schriftsteller Fasil Iskander aus.

Die Bürgerrechtler begründeten ihren Schritt damit, daß seit 1994 die Mißachtung der Bürgerrechte ein bedenkliches Ausmaß angenommen hätte. Neben der offenen Verletzung von Menschenrechten stellte die Kommission eine „wachsende Militarisierung der Gesellschaft“ fest. Unabhängig von den eindeutigen Verstößen gegen internationale Vereinbarungen im Tschetschenienkrieg, „weitet sich die Tätigkeitssphäre und Vollmacht von Sicherheitsdiensten aus, die zu sowjetischen Methoden zurückkehren“.

Die Sicherheitsdienste unterlägen weder einer zivilen Kontrolle noch müßten sie über ihre Ausgaben Rechenschaft ablegen. Daneben entstünden eine Vielzahl offizieller und inoffizieller bewaffneter Gruppen und Institutionen. Zu ihnen zählen die paramilitärischen Einheiten der extremen Rechten, die bisher unbehindert von der Justiz ihr faschistisches Unwesen in Wort und Tat treiben dürfen.

Besorgnis bei den Menschenrechtlern erregt auch die Lage der kleinen Völker des Nordens, des Fernen Ostens und Sibiriens. Ihre Lage hat sich nach Angaben der Kommission in den letzten Jahren nochmals verschlechtert. Hochbestallte Staatsdiener würden vor offener Diskriminierung aus rassistischen Motiven nicht mehr zurückschrecken.

In diesen Bereich fällt auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Nach altem sowjetischen Modell dürfen sich die Bürger in einigen Regionen ohne Zustimmung der Verwaltungen nicht mehr niederlassen. Dies gilt besonders für Bürger nichtrussischer Abstammung.

Sicherheitsorgane nutzen den Deckmantel der Verbrechensbekämpfung, um die verfassungsrechtlich verbrieften Bürgerrechte einzuschränken. 20.000 Fälle von Übergriffen der Staatsmacht wurden 1994 von den zuständigen Behörden tatsächlich verfolgt. Das sei lediglich die Spitze des Eisberges. Überhaupt befinde sich das gesamte Rechtssystem einschließlich der Jurisdiktion in einem alarmierenden Zustand. Der Staat, der sich von der Gesellschaft löst, verfolgt erneut das Ziel einer Selbstisolation. Den Kommissionsmitgliedern wurde der Zugang zu Materialien und Archiven trotz eindeutiger Rechtslage immer häufiger verwehrt.

Wie berechtigt die Rücktritte der Kommissionsmitglieder sind, bewies die russische Führung gestern in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Moskau drohte das Feuer auf die mehr als 10.000 Menschen zu eröffnen, die vor dem zerschossenen Präsidentenpalast seit drei Tagen gegen die Besetzung ihres Landes demonstrieren. „Wir haben die Mittel, jede Provokation resolut zu unterdrücken“, drohte Michail Tichomirow, der Kommandeur von Jelzins Truppen in Tschetschenien. Klaus-Helge Donath