Talkshow mit Norbert und Bernd

■ Kontrovers zum „Verschwinden der Wirklichkeit“ im Literaturhaus: Norbert Bolz und Bernd Guggenberger

Wenn heute abend die Vortragsreihe „Vom Verschwinden der Wirklichkeit“ im Dialog zwischen Norbert Bolz und Bernd Guggenberger fortgesetzt wird, hat dies, in der zu erwartenden Aufteilung kontroverser Positionen zum Thema Neue Technologien und Medien, fast Talkshow-Format – wie passend, da es um Medien geht.

Also stellen wir uns vor: Jingle, leere Bühne, eine Stimme aus dem Off: Guten Abend meine Damen und Herren, willkommen zu „Vom Verschwinden der Wirklichkeit“, auch heute wieder aus dem Literaturhaus Hamburg, live und in Farbe – abschalten können Sie woanders!

Wir begrüßen heute zwei Gäste. Zum einen Norbert Bolz, bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen. In letzter Zeit beschäftigte er sich mit dem Entwurf einer Theorie der neuen Medien (1990) und präsentiert in seinem letzten Buch ihre vorerst letzte Variante: Das kontrollierte Chaos: Vom Humanismus zur Medienwirklichkeit. Zentraler Gedanke ist hier, die traditionellen Einschränkungen aufzuheben, die den Menschen zu dem kümmerlichen Wesen gemacht haben, das er ist, damit er sich endlich zu seinen eigensten Möglichkeiten befreit. Dies soll geschehen in der „Synergie von Mensch und Maschine“, eine Art Arbeitsteilung zwischen „Rechnen, Speichern und Suchen“ auf der einen Seite und der nach wie vor unersetzlichen Kompetenz des Menschen „im Bewerten, in der Gestalterkennung und im Kontextbewußtsein“ andererseits. Perspektiviert ist das Ganze auf die foucaultsche „Ästhetik der Existenz“ inmitten und mit Hilfe der neuen medialen Technologien: „Nur als ästhetisches Phänomen kann ethisches Handeln noch gerechtfertigt werden – so könnte unsere Wiederholung der Antike auf der Spitze der Postmodernität lauten.“ Am vorläufigen Ende seiner theoretischen Entwicklung findet Bolz also in der Ästhetik sein Refugium.

Doch kommen wir zu unserem zweiten Gast, Bernd Guggenberger, Professor für Politische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin. Unter dem Eindruck des Golfkrieges, insbesondere seiner medialen, ausschließlich wohnzimmergemütlichen Wirklichkeit, beginnt auch Guggenbergers eingehendere Beschäftigung mit den Neuen Medien. (Der erste der letzten Kriege? Nachgedanken zum Krieg am Golf) und ihrer theoretisch-ideologischen Aufarbeitung (Postmoderne oder das Ende des Suchens?, Einfach Schön: Schönheit als soziale Macht). Den letzten Orientierungsposten in unserer massenmedialisierten, durchästhetisierten Welt erkundet Guggenberger in seiner vorerst letzten Veröffentlichung, dem Spiel als Utopie.

Inmitten des Verlustes von unmittelbarer Erfahrung sowie der Narkotisierung von Bewußtsein und Aktivität, können „nur spielfähige Menschen die Vollendung des technologischen Universums und damit das Universalwerden der technischen Vernunft (noch) verhindern.“ Denn nur das Spiel kann uns noch lehren, „daß die Regeln unserer Zivilisation, unseres Lebens, unseres Wirtschaftens, unseres Umgangs mit der Natur unsere eigenen Spielregeln und damit änderbar sind.“ Einen Ausweg aus der zynischen Unverbindlichkeit und selbstverschuldeten Unmündigkeit sieht Guggenberger also in der spielerischen Entfaltung von Kreativität und Urteilskompetenz, d.h. in der Stärkung des subjektiven Faktors gegenüber dem scheinbar objektivierten Sachzwang.

Ob nun als ästhetische Indienstnahme der Neuen Medien, wie bei Bolz, oder als spielerischer Umgang mit und gegen die Technik wie bei Guggenberger – es sind die zwei Seiten einer Medaille, nein, es ist dasselbe! Und so bleibt auch diesmal das Talkshowformat siegreich, keine wirklichen Alternativen, keine Kontroverse, kein Streit, sondern nur die gewohnte Scheinvielfalt. Eine angemessene Politische Theorie und Ökonomie der Neuen Medien steht noch aus – aber vielleicht sind unsere beiden Kontrahenten schon auf dem Weg dorthin. Wie gesagt, abschalten können Sie woanders

Christian Schlüter