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Meysel im besonderen Einsatz

■ Beichtmutter Inge kauft im Osten – „aus Protest“. Bravo!

„Sind Ihre Haare echt?“ fragt Inge Meysel „den Ben“ vom Pfefferberg, der sich vor Rührung nicht zurückhalten kann und gleich zweimal zum Mikro geht, als nach Inge Meysels „Lesung“ Fragen an die 85jährige gestellt werden dürfen. Gelesen aus ihren Memoiren hat sie allerdings nicht: „Ist mir zu kompliziert, ich erzähle lieber.“ Ben jedenfalls hat sich „wochenlang auf SIE gefreut, auf diese Begegnung von Jung und Alt...“

Für die ziemlich absurd anmutende „Begegnung“, auch zwischen „Ost“ und „West“, steht nicht nur das bunt altersgemischte Publikum im Pfefferberg zur Verfügung. Moderatorin im besonderen Einsatz, leider ohne einen Ton zur Diskussion beitragend: Angela Marquardt, PDS – die Frau, die mit ihren bunten Haaren Post-Punk-WählerInnen zur PDS lockt. Inge Meysel will sie zwar nicht gleich Freundin nennen, aber seit einer Talk-Show mit ihr in Bremen verbindet beide irgendwas. Nicht daß die alte Dame auf ihre alten Tage plötzlich die DDR hochhalten will, aber beim Einkaufsbummel ballt Inge Meysel mitunter die Faust in der Manteltasche: „Ich kaufe im Osten ein, aus Protest!“ „Bravo!“ ruft jemand im Publikum.

Überhaupt, das Publikum. Wer, außer durchgeknallten Journalisten, geht freiwillig zu I. Meysel und warum? Um Anekdoten zu hören von einem Leben im Dritten Reich als „Mischling“ (Meysel selbst benutzt den Ausdruck), dem von einem Obernazi in Leipzig gesagt wird: „Es wäre besser, wenn Ihr Vater tot wäre.“ Das fand Meysel durchaus nicht, und weil sie dies auch sagte, war Schluß mit der Schauspielerei.

Das Verblüffende an Meysel: Sie ist auch mit 85 Jahren fit genug, fast alle Fragesteller nach kürzester Zeit als Volldeppen dastehen zu lassen. Sei es das männliche Mitglied der „Jungdemokratinnen“; sei es die Frau, die Meysel ihre Lebensgeschichte zugeschickt hat, was die Grande Dame mit einer koketten Handbewegung abtut; sei es der Mann, der vor dreißig Jahren, im zarten Alter von acht, tagelang bei der Meysel am Gartenzaun stand, um ein Autogramm zu ergattern. Meysel, leicht mißtrauisch: „Haben Sie das Autogramm noch?“

Dann bekommt Mutter Courage die Chance, einer Fernsehredakteurin die verzwickte TV-Welt zu erklären. „Es gibt heute 20 Kanäle!“ Die Redakteurin möchte unbedingt den Namen ihrer „unbedeutenden“ Sendung nennen, was Meysel durch konsequentes Dazwischenreden zu vereiteln weiß. „Aber junge Frau, Sie haben doch bestimmt eine Fernbedienung. Ich war in Frankreich... ich kann Ihnen sagen, nirgendwo ist das Fernsehen besser als bei uns.“ Aber diese schrecklichen Serien! Meysel: „Dreimal drücken, und Sie sind ganz woanders. Wenn Sie nach Moabit wollen, steigen Sie doch auch nicht in den Bus zum Ku'damm, oder?“

Auch diese Runde geht an „die Meysel“. Was zur Hölle strahlt diese rüstige Rentnerin aus, das bei ihrem Publikum zu kollektivem Beichtzwang führt? Nach der Audienz fühlt man sich erleichtert, froh verlassen die Menschen den Pfefferberg. Nur Frau Marquardt bleibt durch konsequentes Zuhören auf ihren Geheimnissen und Sünden sitzen und muß sich bis an ihr Lebensende die Haare bunt färben. Andreas Becker

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