: Wenn die Natur stöhnt ... Von Karl Wegmann
An dem Tag, an dem wir die Natur stöhnen hörten, waren wir nicht darauf vorbereitet. Es war einer dieser stimmungsvollen Septembertage; der Sommer war noch da, aber der Herbst schaute schon um die Ecke. Willy und ich saßen auf seiner Holzterrasse, beobachten die Wasserläufer auf dem Teich und warteten darauf, daß die Sonne endgültig hinter der alten Juteweberei versank. Neil Young und Willie Nelson sangen „Are there anymore real Cowboys“, wir hatten jeder unsere dritte Flasche Bier in Arbeit und waren geneigt, die Frage positiv zu beantworten.
Ich erzählte Willy von meiner griechischen Landschildkröte, die ich als Kind hatte und die sich im Herbst immer irgendwo im Garten einbuddelte, was ich aber nie mitbekam. Im Frühling gab es dann immer ein großes Hallo, wenn sie wieder auftauchte. Nur einmal nicht, als mein Vater nämlich einen neuen Weg aus großen Steinplatten angelegt hatte. „Mein Alter hat also mitgeholfen, diese Tiere auf die Liste der gefährdeten Arten zu setzen“, sagte ich gerade, als Willy warnend die Hand hob. „Hast du das gehört“, fragte er. „Na klar, is'n Bootleg, was da läuft. Ich weiß, daß der ,Southern Man‘ nicht so gut kommt, aber ...“ „Nein, das mein' ich doch nicht“, unterbrach er mich gereizt und schaltete die Musik ab. Jetzt hörte ich es auch. Es war ein Keuchen oder schweres Hecheln und eindeutig nicht menschlich. Willy schaute nach seinen beiden Katzen, aber James und Mikro waren damit beschäftigt, die letzten Rotaugen aus dem Teich zu fischen. Das Geräusch war ziemlich laut, klang irgendwie unheimlich. Wir hörten eine Minute lang zu, schauten uns dann an, sprangen auf und liefen in den Garten.
Das Geräusch kam aus der hintersten Ecke, da, wo Willy den Garten ein bißchen verwildern ließ. „Was glaubst du, was das ist?“ fragte ich und versuchte, im Unterholz etwas zu erkennen. „Ich weiß auch nicht, hört sich nach was Großem an, ein verletzter Hund vielleicht“, rätselte er. „Willst du nachschauen?“ „Ich weiß nicht.“ Mir war nicht wohl bei der Sache. „Wenn es nun ein angeschossener Dachs ist?“ Das sei Quatsch, befand Willy. „Aber 'ne Schildkröte ist es bestimmt auch nicht“, wußte ich, „die machen nicht diesen Krach.“ Inzwischen waren auch die Katzen aufmerksam geworden, hielten aber respektvollen Abstand. Das seltsame Stöhnen und Keuchen nahm noch zu. Willy fragte sich, ob er vielleicht einen Tierarzt verständigen sollte. „Und was willst du dem sagen“, fragte ich, „Herr Doktor, Herr Doktor, unter meiner Tanne stöhnt etwas?“ Wir beschlossen, doch erst einmal nachzusehen. Willy holte eine Harke und einen Besen, wir teilten damit, ganz vorsichtig, das Dickicht und ... müssen ziemlich blöd ausgesehen haben. Uns klappten die Kinnladen runter, und dann lachten wir uns scheckig. Vor uns hockten zwei Igel, zwei fickende Igel.
Es wurde dann noch ein denkwürdiger Abend, mit viel Neil Young und Flaschenbier. Die Igel rammelten noch ungefähr eineinhalb Stunden lang. Wir bewunderten ihre Ausdauer, kicherten, zitierten Hess' „Narziß und Goldmund“ (... ohne daß er begriff warum, überraschte ihn diese Einsicht, daß Schmerz und Lust einander ähnlich sein konnten wie Geschwister“), lachten noch mehr und versprachen uns, die Natur künftig in Ruhe zu lassen, auch, oder gerade, wenn sie mal stöhnt.
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