■ Daumenkino
: Strange Days

Wie gesagt: Mahnen, Warnen und Alarmieren sind gewiß schöne Dinge, nur ob sie gute Kinounterhaltung abgeben, ist zweifelhaft. Sofort einleuchten muß hingegen, daß wer mahnen usw. möchte, die Jahreswende zum nächsten Zentenarium wählen und als Ort des Geschehens Los Angeles zeigen muß. The City of Quartz, in der sich alle Zukunftsgrusel kristallin bündeln, um tausendfach in die Welt hinausgespiegelt zu werden, eignet sich für diese spezifische Form von Apokalyptik ausgezeichnet – keine andere Stadt ist medial dermaßen mit sich selbst beschäftigt; diese lebt sogar davon.

31. 12. 1999 also, und in Los Angeles tobt ein fotogener Bürgerkrieg. Drei Jahre nach den Riots, unter dem aktuellen Eindruck des Prozesses gegen O. J. Simpson gefilmt, ist die Stadt ein großes, grell von Blaulichtern, Feuersbrünsten und pyrotechnischen Erzeugnissen illuminiertes Bestiarium. Die Menschen sind – was für Los Angeles recht untypisch ist – irgendwie alle auf der Straße, und zwar als wandelnde, Crack-berauschte Lederfestungen. Auf den funkelnden Stellwänden entlang der Straße sieht man aber riesige Konterfeis von lächelnden schönen Japanern, Afrikanern, Schweden und so weiter, die eine Art Unicef-Bild davon liefern, wie der Mensch sein könnte, wenn er bloß nicht so vertrackt modern wäre.

Die Protagonisten sind entweder unangenehm oder egal. Lenny Nero (Ralph Fiennes, bezeichnenderweise der, der den Amnon Göth in „Schindlers Liste“ spielte) ist ein Ex-Cop, der inzwischen zum Clip-Dealer verkommen ist. „Clips“ sind Teufelszeug: Disketten, die per Elektromagnetismus anderer Leute Erfahrungen direkt in deine Synapsen einfüttern, und zwar taktiler, als denen womöglich lieb sein kann. Wenders hätte es gemocht (hatt's ja selbst versucht, in „Bis ans Ende der Welt“). Sie sind mit der sogenannten subjektiven Kamera gefilmt, die man in Hollywood in diesem Ausmaß nur vor fast 50 Jahren in „Lady in the Lake“ sah. Ein müder Angestellter kauft sich die Erlebnisse einer 14jährigen beim Duschen, ein Mann im Rollstuhl kauft sich ein Clip mit Sprinterbeinen, für die Hausfrau eine Portion kinky Sex, aber natürlich auch Snuff Material: Blick aus den Augen des Mörders beim Erstechen einer Prostituierten, einer Gang beim Niedermetzeln eines Ladenbesitzers etc. Diese Clips halten eine poröse Resthandlung zusammen: Nero sehnt sich nach der Chanteuse Faith (Juliette Lewis), die sich aber aus Karrieregründen Philo Gant (Michael Wincott) an den Hals geworfen hat, während derweilen die Polizisten den Rapper Jeriko One erschießen, um anschließend hinter dem Clip herzusein, auf dem dieser Mord festgehalten ist (vergeßt das Rodney-King-Tape). Und so weiter.

Eine seltsam altertümliche Warnung wird verfilmt – die Befürchtung nämlich, die Wahrnehmung könnte tatsächlich sein, was sie nun einmal ist: ein neurophysiologisches Unterfangen, dem der sortierende Gedanke, der uns von den Tieren trennen sollte, bestenfalls nachgeschaltet ist. Auch Variety notierte: „Der Film (...) antizipiert eine Zukunft, in der visuelle Unterhaltung nur noch auf physischen Kicks beruht.“

Wenn James Cameron (Drehbuch und Produktion) und seine Ex-Frau Kathryn Bigelow einen solchen Stoff in den Händen haben, paart sich die düstere Ahnung mit einem gewissen Triumphalismus: In einem endlosen, von bunten Feuerwerksraketen und Riesenleinwänden erleuchteten Countdown, zu der grausigsten Filmmusik, die ich jemals vernahm, finden sich die inzwischen zu rasenden, verschwitzten, blutenden Monaden reduzierten Protagonisten schicksalhaft wieder und wieder in einer gnadenlos feiernden Menge. mn

„Strange Days“, Regie: Kathryn Bigelow