Hilfe nach Erdbeben soll aus Erfahrungen lernen

■ Japanische Ärzte fordern Konsequenzen aus den letzten Katastrophen: Internationales Notfallzentrum als „Trainingslager“ für das Rettungspersonal

Berlin (taz) – „Das große Erdbeben hat uns wichtige Lektionen erteilt über die medizinische Versorgung in Zeiten der Krise. Wir brauchen eine weltweite Strategie, um den Katastrophenschutz effektiver zu machen. Weitere Erdbeben werden kommen.“ Als ein sechsköpfiges japanisches Autorenteam diese Sätze schrieb, ahnte es nicht, wie schnell ihr Aufsatz über die medizinische Bewältigung einer Erdbebenkatastrophe aktuell werden könnte. Zeitgleich mit ihrer Veröffentlichung bebte die Erde erneut.

Und jetzt, fast genau ein Jahr nach dem Schrecken von Kobe, hat sich eine ähnliche Katastrophe in Südchina wiederholt: Wieder sind Hunderttausende obdachlos. Mindestens 300 Menschen sind seit Samstag in der Provinz Yunnan umgekommen und 15.000 verletzt. Hunderte wurden in den Trümmern begraben. Es gab Hunderte kleiner Nachbeben.

Vor welch ungeheurer Herausforderung die HelferInnen stehen, haben die Ärzte aus Kobe im britischen Medizinfachblatt Lancet eindrücklich beschrieben: Als in Kobe am 17. Januar 1995 die Welt einstürzte, wurden 200.162 Gebäude und 415.659 Wohnungen beschädigt oder vollständig zerstört. 342.000 Menschen, jeder zehnte Einwohner, mußten in Notunterkünften untergebracht werden. Zehn Wochen nach dem Beben lebten immer noch 55.000 Menschen in diesen Schutzräumen. 5.502 Tote wurden gezählt.

Typische Unfallverletzungen, Knochenbrüche, Verstauchungen und Quetschungen gehörten zur ersten Welle von zigtausend Kranken, die versorgt werden mußten. Aber wie und vor allem womit? Es fehlte an Wasser, an Verbandszeug, an Sauerstoff, an medizinischer Ausrüstung und an Arzneimitteln. Die aus ganz Japan und vielen anderen Ländern gespendeten Medikamente und Gerätschaften erreichten viel zu spät ihr Ziel. „Der Transfer dauerte länger als erwartet wegen der verheerenden Verkehrssituation. Nicht Autos, sondern Fahrräder und Motorräder erwiesen sich als die besten Verkehrsmittel.“

Am vierten Tag nach dem Beben von Kobe erreichte die Zahl der Kranken und Verletzten in den Notfallstationen das höchste Niveau. Dort bildeten LaienhelferInnen die wichtigste medizinische Ressource. Nach der Versorgung der Verletzten änderte sich rasch das Bild. Herzinfarkte, Bluthochdruck, Lungenentzündungen, Asthma, Erkältungen – es war ja Winter –, stressbedingte Blutungen im Magen-Darm-Bereich gehörten jetzt zu den häufigsten Erkrankungen, später auch Tuberkulosen.

Und immer schwieriger wurde die Lage der chronisch Kranken: Dialysepatienten, Diabetiker, hilflose Alte. Vor allem die Zuckerkranken gerieten mehr und mehr in Panik, weil ihre Medikamentenreserven zur Neige gingen. In den Notunterkünften war es bitter kalt, die Heizungen funktionierten nicht.

Auch die Ernährung war schlecht. Mobile Einsatzteams wurden gebildet, die in den Turnhallen und Schulen, Parks und anderen Notunterkünften medizinische Hilfe leisteten. Dennoch gab es offenkundige Koordinationsprobleme. Die abkommandierten Freiwilligen hätten sich zu sehr auf die von der Regierung ausgewählten Stützpunkte konzentriert und andere Stellen vernachlässigt, heißt es in dem Bericht. Psychologische Unterstützung war dringend notwendig. Hunderttausende standen vor den Trümmern ihrer Existenz, die Zahl der Selbstmorde nahm sprunghaft zu. Und: „Wir hatten sehr viele alkoholabhängige Patienten zu versorgen“, schreibt das japanische Autorenteam.

Als Katastrophenhelfer wurden verstärkt Computerspezialisten benötigt, um das zerstörte Kommunikationsnetz und die elektronikabhängige moderne Medizin wieder aufzubauen. „Die Medizintechnologie hat sich enorm entwickelt. Doch im Katastrophenfall ist die moderne Technik nur von geringem Nutzen“, bilanzieren die sechs Kobe-Ärzte.

Als Konsequenz ihrer Erfahrungen fordern die Mediziner die Einrichtung eines internationalen Notfallzentrums, um dort den Ernstfall zu trainieren und Katastrophenhelfer auszubilden. Ein solches „Trainingslager“ der Weltgesundheitsorganisation sollte bei künftigen Erdbeben vor Ort verlegt werden. „Wir hoffen, daß sich unsere Fehler und die ausgelöschten Leben von Kobe nicht wiederholen“, schließt der Bericht. Manfred Kriener