Zerbrechlichkeit und Kraft im Rampenlicht

■ Genialer Kitsch im Schmidt-Theater: Der junge Chansonnier Tim Fischer ist wieder einmal „zu Hause“

Klein und schmal steht er auf der Bühne, der schwarze Anzug unterstreicht seine blasse Haut. Ein Hungerhaken, könnte man urteilen. Das erste Lied an diesem Abend ist dann tatsächlich Friedrich Hollaenders „Hungerkünstlerin“. Wenige Minuten, und das Bild, das Tim Fischer von sich malt, ist ein funkelndes, kreischendes, vor allem einnehmendes. Von wegen blaß und schwächlich – ein Energiebündel, ein Meister der Unterhaltung, der sein Publikum im Griff hat.

Am Nachmittag vor der Show, beim Gespräch in der Hotelbar, da ist er noch der schüchterne Junge, der vielleicht auch Angst hat vor unangenehmen taz-Fragen. „Ich bin gar nicht so eklig“, sagt Tim Fischer – wissend, daß die viele Schminke und seine bewußte Affektiertheit auf der Bühne häufig als Arroganz interpretiert werden. Und er räumt ein, daß er mit 17 Jahren von der Schule, von den Eltern „bewußt gegangen, nicht abgehauen“ sei. Insofern hat er eben keine weitreichende „Bildung“ im engsten Sinne des Wortes erfahren.

Dafür kann er nun reichlich „Lebenserfahrung“ aufweisen, auch so ein blödes Wort, aber es trifft die Sache ganz gut. „Ja, wenn's gewünscht wird“, dann spricht er über seine „schlimmen Jahre“. Aber eigentlich, denkt er, zähle doch das, was jetzt ist: „Ich habe Erfolg und kann gut für mich selbst sorgen. Das finde ich viel wichtiger!“ Wohl wahr – und dennoch schwer zu glauben. Zwar ist Tim Fischer jetzt 22 Jahre alt und gar nicht so klein, wie es auf den ersten Blick scheint. Trotzdem hat man das Gefühl: Der Junge muß gut essen, damit er noch ordentlich wächst.

Gelegentlich sind solche Gefühle ihm gegenüber auch angebracht, zum Beispiel wenn es um die Bundeswehr geht. Vor kurzem mußte Tim Fischer zur Musterung, und das war „hammerhart, eine Tortur“. Ausgelacht haben sie ihn, wie früher in der Schule. Und wenn er zum Kriegsdienst muß, das wäre für ihn persönlich „ganz, ganz furchtbar“. Vor allem aber befürchtet er eine „Katastrophe“ bezüglich seinerKarriere.

Denn die Arbeit, der Gesang oder „das Sprechen mit Ton“, wie er es nennt, ist das, was vor allem anderen für ihn zählt: „Ich arbeite 20 Stunden am Tag, das ist schon ein Pferdejob!“ Aber ein schöner. Ständige Reisen, Fernsehauftritte und proben, proben, proben, „um alle Nuancen zu finden, alles aus den Liedern herauszukitzeln“. Seit vergangenem Sommer ist Tim Fischer fast ständig auf Tour, hat kaum Zeit, sich in Berlin auszuruhen oder mit Freunden zu treffen. Doch aller Streß ist vergessen, wenn er auf der Bühne steht und nur noch denkt: „Das ist alles sooo schön!“

Im Publikum sitzen viele, die gewöhnlich mit klassischen Chansons oder mit alten Schlagern nicht viel anzufangen wissen. Doch gerade im Schmidt-Theater, wo der Junge aus Delmenhorst „groß geworden“ ist und sich seit fünf Jahren zu Hause fühlt, springt der Funke über. Es liegt wohl an seiner Interpretation, am Schauspiel, an der Hingabe, mit der er blitzschnell von trauriger zu wütender zu melancholischer zu wilder Präsentation wechselt. Und es liegt am präzisen und lustvollen Zusammenspiel mit seinem ausdrucksstarken Pianisten Rainer Bielfeldt.

Bis zur Anbetung reichen die Reaktionen des Publikums, das sich – äußerst bemerkenswert in dieser Jahreszeit – nicht einmal zu Husten traut. Es wird aber auch herzlich und laut gelacht, und bei den „Caprifischern“ heftig mitgebrüllt. Zwischendurch verschwindet ein Zuschauer, wenig später kommt er mit zwei frisch erstandenen Rosen für das Duo wieder. Wer hat zu diesem Film bloß das Drehbuch geschrieben?

Als fünfte, letzte Zugabe singt Tim Fischer sein Lied, die „Rinnsteinprinzessin“. Rainer Bielfeldt und Edith Jeske haben ihm die Musik und den Text geschenkt, vor Jahren. Heute wünscht er sich noch immer, leise und inbrünstig: „Ich bin die Rinnsteinprinzessin, Gelegenheitsbraut. Küß mir das taube Gefühl von der Haut.“ Genialer Kitsch. Tim Fischer darf das.

Nele-Marie Brüdgam