Ein linker Pragmatiker im Bezirk Tiergarten

■ Der frühere Lehrer Jörn Jensen (52) ist der erste grüne Bürgermeister im Westteil

Der erste grüne Bürgermeister im Westteil der Stadt begann seine Amtszeit konsequent. Innerhalb von zwei Wochen schaffte Jörn Jensen seinen Dienstwagen ab. „Den Leasingvertrag konnten wir problemlos zum 31. Dezember kündigen“, sagt der 52jährige mit der grauen Lockenmähne. Der Bezirk Tiergarten spart damit unterm Strich 65.000 Mark im Jahr. Ein glücklicher Umstand wollte es, daß sein Fahrer ohnehin eine Umschulung zum Verwaltungsangestellten begonnen hatte und einen Ausbildungsplatz im Bezirksamt bekam. „Ich hätte niemand vor die Tür gesetzt, dazu bin ich zu sehr Gewerkschafter“, sagt Jensen.

Schon als Volksbildungsstadtrat von Tiergarten nutzte Jensen eines der drei Diensträder, so oft es ging. An diesem Nachmittag fährt er mit der BVG zum 10jährigen Jubiläum des türkischen Elternvereins nach Kreuzberg. Die Einladung hat er „aus alter Verbundenheit“ angenommen. Der frühere Deutsch- und Sportlehrer kennt Vorstandsmitglieder noch aus den 70er Jahren, als er sich in der AG Ausländischer Lehrer engagierte. Bei der Feier trifft Jensen auf alte Weggenossen, wie den Berufsschullehrer Riza Baran, der im Oktober per Direktmandat ins Abgeordnetenhaus einzog und den GEW-Vorsitzenden Erhard Laube. Ihn kennt Jensen noch aus der Ausbildung.

Der 68er mit den graugrünen Augen und der feingeschnittenen Nase hat unübersehbar Sinn für Ästethik: Jensen trägt ein Seidenhemd mit verdeckter Knopfleiste, einem kunstvoll zum Krawattenersatz geschlungenen Seidenschal und einen Rubin am Ohr.

Als „einen sehr angenehmen Zeitgenossen“ beschreibt ihn sein Stadtratskollege Horst Porath (SPD). Konfliktpunkte hätten sich immer „in kooperativer Weise“ ausräumen lasssen. „Er ist keiner von denen, die sich in den Vordergrund drängen“, sagt Sybille Volkholz, die „den Jörni“ als Schulsenatorin unter Rot-Grün als wissenschaftlichen Mitarbeiter in ihre Senatsverwaltung holte. An Jensen schätzt sie, daß er „mit unglaublicher Beharrlichkeit selbstgesteckte Ziele verfolgt.“

Als Bezirksbürgermeister im zukünftigen Regierungsviertel will Jensen bei der Hauptstadtpolitik gegensteuern, damit der Bezirk nicht „überrollt“ wird. Im Rat der Bürgermeister kann er sich vorstellen, mit den PDS-Bürgermeistern „in Teilbereichen eine gemeinsame Linie zu finden“ und diese auch durchzusetzen. „Ich muß keine Rücksichten auf den Senat nehmen“, sagt er.

Jensens Hobbys sind eng mit seinen früheren Unterrichtsfächern verbunden. Der frühere Leistungssportler im Geräteturnen paddelt gerne im Kanadier und liest leidenschaftlich gerne Belletristik. Doch seine größte Leidenschaft gilt dem Reisen. Ende der siebziger Jahre besuchte er China. Die Reise weckte ein so nachhaltiges Interesse an dem Land, daß er einen längeren Arbeitsaufenthalt plante. Von 1983 bis 1986 arbeitete Jensen als Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an chinesischen Universitäten in Wuhan und Hangzhou. In dieser Zeit lernte er nicht nur die Sprache, sondern nahm auch die chinesische Variante des Sozialismus unter die Lupe. Jensen lebte sich so gut ein, daß er bei seiner Rückkehr nach Berlin lange Zeit mit einem heftigen Kulturschock zu kämpfen hatte. „Ich habe einfach nicht eingesehen, warum ich im Supermarkt zwischen zehn Sorten Senf auswählen soll“, scherzt er. Weitaus mehr Probleme bereitete ihm, „daß wir uns in der saturierten Gesellschaft Probleme machen, die aus chinesischer Perspektive keine sind.“ Im politischen Alltag ist Jensen, der am „Sozialismus als Utopie“ festhält, ein kühl rechnender Pragmatiker. Als die Bibliothek des Oberstufenzentrums Banken und Versicherungen in Folge von Personalabbau gefährdet war, gelang es ihm, den Bankenverband als Sponsor zu gewinnen. Für zwei Jahre finanziert das Bank- und Kreditgewerbe die halbe Stelle einer Bibliothekskraft. Der Einsatz lohnt sich auch für die Banken, denn hier wird ihr potentieller Nachwuchs ausgebildet.

Auch die Bündnisgrünen in Tiergarten haben seine unorthodoxe Geldaquise ohne Murren akzeptiert. „Ich wurde jedenfalls noch nicht als Kapitalist bezichtigt“, schmunzelt Jensen.

An sein neues Amt will Jensen „so wenig Zugeständnisse wie möglich“ machen. „Ich will mir treu bleiben.“ Das Zugeständnis des Tages ist eine weinrote Fliege, die sich Jensen in einem arabischen Imbiß am Winterfeldtplatz en passant umbindet. Denn nach dem „Heimspiel“ beim türkischen Elternverein geht es am Abend zum Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer.

Jensens Verzicht auf den Dienstwagen findet derweil erste Nachahmer, darunter den Hellersdorfer Bürgermeister Uwe Klett (PDS). Jensen ist zufrieden: „Ich wollte durchaus Druck erzeugen, damit andere nachziehen.“ Dorothee Winden