Von Lichtquelle zu Lichtquelle

Die U-Bahnstationen sind wie leuchtende Inseln unter der Stadt. Hier warten nicht nur die Reisenden, hier warten manchmal auch die Selbstmörder auf ihre tödliche Chance. Eine Fahrt mit der U7  ■ Von Christoph Oellers

Es ist dunkel. Fast dunkel. Die Scheinwerfer leuchten müde wie Taschenlampen. Es sind die Funzeln einer U7, die durch den Tunnel zwischen Mierendorffplatz und Richard-Wagner-Platz rollt – Richtung Rudow. „Gleich kommt die Stelle“, sagt Zugfahrer Volker Werding scheinbar emotionslos. Das kann eigentlich nur Fassade sein. Denn jene Stelle markiert für ihn das schrecklichste Erlebnis als Zugfahrer. Ein Erlebnis, das nicht einmal vier Monate zurückliegt.

Dreihundert Meter sind es noch bis zum Richard-Wagner- Platz: Eine kaputte Neonröhre flackert, als ob sie ein Gedenklicht sein soll für Werding, damit er den 12. Oktober 1995 12.12 Uhrimmer in Erinnerung behalte. Die Neonröhre brannte damals schon. Werding fuhr mit den zugelassenen 70 Stundenkilometern.

Aufrecht sitzt Werding jetzt da, ganz rechts in der kleinen Fahrerkabine und starrt in die Dunkelheit. Seit 1981 arbeitet er für die BVG. Angefangen hat er noch als Schaffner, kurze Zeit war er Zugabfertiger, seit zwölf Jahren ist er Zugfahrer.

„Ich liebe meinen Beruf“, sagt er. Der 37jährige wirkt cool und abgeklärt. Kein Typ, bei dem der Puls schneller schlägt, wenn er mit seinem Zug in den Bahnhof einrollt, aus Angst vor einem Unglück, daß jemand auf die Gleise stürzt oder springt. Mit seiner linken Hand drückt er dauernd einen Knopf hoch, stellt so den Stromkontakt her. „Sonst würde sich der Wagen sofort festbremsen“, sagt er. Mit der Rechten bedient er entweder den Geschwindigkeitshebel oder bremst. Jetzt im Tunnel zwischen Mierendorffplatz und Richard-Wagner-Platz geht er nicht ans Limit. Die Tachonadel bleibt bei 60 stehen.

Dabei darf der Zug hier seine Höchstgeschwindigkeit ausfahren, 70 Stundenkilometer. 70 Sachen – da gleiten die Betonwände und Betonpfeiler vorbei; vorbei, obwohl man ständig glaubt, der Zug rammt sie, nimmt sie mit, weil der Abstand so gering ist. Immer wieder sieht man an der Tunnelwand eine weiß-rot-weiße Linie. Ein Mensch paßt nicht mehr dazwischen, bedeutet das. Die Linie ist als Orientierung gedacht für die Gleisarbeiter, die im Takt der Zugfolge Schienenbrüche reparieren müssen. Schienenbrüche treten im Winter gehäuft auf. Die Kälte setzt dem ohnnehin schon strapazierten Gußstahl weiter zu. Die Züge dürfen dann nur mit 15 bis 25 Stundenkilometer fahren. Die Zugfahrer müssen trotzdem den Fahrplan einhalten.

Werding stört es nicht sonderlich. „Es gibt Schlimmeres.“ Daß er jetzt im Tunnel zwischen Mierendorffplatz und Richard-Wagner-Platz nur 60 und nicht die erlaubten 70 fährt, hat nichts mit Schienenbrüchen und Gleisarbeiten zu tun. Ein mulmiges Gefühl habe er jedesmal. „Hier war es, genau hier“, sagt Werding. Eine einzige helle Stelle in der Dunkelheit des Tunnels zwischen Mierendorffplatz und Richard-Wagner- Platz, Richtung Rudow.

Werding stößt sich schon eher an dem sogenannten „Aufhellungsprogramm“, das die Bahnhöfe sicherer gestalten soll. Mit mindestens 120 Lux auch die hintersten Winkel ausleuchten. Helligkeit gleich Sicherheit ist eine Formel, die vielleicht für die BVG- Fahrgäste zutrifft, aber nicht für die Kutscher des Untergrunds. Bei den Bahnhofseinfahrten ist es teilweise so, als würde man unsanft geweckt mit einer starken Taschenlampe, deren Lichtkegel einem direkt in das Gesicht gehalten wird. Aus dem dunklen Tunnelreich in die grelle Neonröhrenwelt und wieder rein ins schwarze Loch. Ein Wechselbad, das sich etwa 300mal pro Tag und Schicht vollzieht. Kein Wunder, daß Fahrer über Augenschmerzen klagen. Morgens um vier, wenn der erste Zug fährt, wenn man ohnehin kaum aus den Augen sähe, würde das aufgehellte Licht „besonders knallen“, sagt Werding.

Normalerweise wäre es für ihn kein Problem, die Strecke blind zu fahren. In- und auswendig kenne er jeden Kilometer hin und jeden Kilometer zurück. 40 Stationen und 31,8 Kilometer von Rudow nach Spandau. Trotzdem hält er die Augen auf, weil ein Fahrer ständig mit dem Ernstfall rechnen muß, ständig damit rechnen muß, daß er aus der Lethargie gerissen wird. Er muß damit rechnen, daß ein Antrieb ausfällt und der Zug mitten im Tunnel stecken bleibt. Er muß mit Unruhe, Pöbeleien unter den Fahrgästen umzugehen wissen. Und: Er muß dem Tod ins Auge sehen können.

Vor ein paar Jahren, als Werding mit seinem Zug am Bahnhof Berliner Staße in Richtung Rudow stand, hörte er ein lautes, kurzes Klatschen von der gegenüberliegenden Bahnsteigkante. Jemand hatte sich direkt vor den einfahrenden Zug in Richtung Spandau geworfen. Sofort habe er kapiert, was los war, sei ausgestiegen und habe den Kollegen geholfen. „Das hat mir nichts ausgemacht“, sagt er.

Anders am 12. Oktober 1995 um 12.12 Uhr. Plötzlich entdeckte er unter jener Neonröhre Richtung Richard-Wagner-Platz einen Schatten, quer auf den Gleisen liegend. Werding zog die Notbremse. Nutzlos. Der Zug rollte bis zum vorletzen Wagen über den lebensmüden Mann.

Der größte Streßfaktor für einen Fahrer, sagt der Personalrat, sei der Schichtdienst. Nachtschicht, Nachtschicht, Spätschicht, Frühschicht, Frühschicht, zwei Tage frei. Dazu addieren sich jede Menge Überstunden, weil die Personaldecke, gerade im Winter, sehr dünn ist. Viele Fahrer hätten Schwierigkeiten mit der Familie und dem Bekanntenkreis, außerdem mit Kreislaufproblemen zu kämpfen.

Nur die wenigsten werden im Untergrund alt. Meist sind es Bandscheibenprobleme, welche zum frühzeitigen Rentnerdasein zwingen. Auch der Zug, mit dem Werding jetzt unterwegs ist, ein recht moderner Zug, Baujahr 1984, hat eine harte Wagen-Federung. Jede Unebenheit, jeder Rumpler schlägt durch auf die Wirbelsäule. „Wie wenn man“, sagt Werding, „mit weichen Gummistiefeln über spitze Steine geht.“ Mit den neuen Zügen soll das anders werden. Die sind luftgefedert.

Werdings Unglückszug blieb knapp zweihundert Meter vor der Bahnhofseinfahrt Richard-Wagner-Platz stehen. Er stieg aus und ging an den Bahngleisen entlang nach hinten. Der Mann war nicht tot. „Da habe ich einen Haß gekriegt, zuerst legt er sich auf die Gleise und dann schreit er nach Hilfe.“

Den guten Zugfahrer machen zwei Dinge aus: einmal das Bremsen. Exakt auf dem vorgesehenen Haltepunkt stehen zu bleiben, gilt als Kunst. Eine Gefühlssache. „Jeder Zug, sagt Werding, „ist anders“. Das zweite ist das Verhalten in Extremsituationen.

Wie aufgedreht habe er, Werding, am Unglücksort mitgeholfen, bis er ins Krankenhaus gebracht worden sei. Dort hat er einen Tee getrunken und ist mit dem Taxi nach Hause. Ständig hat er sich die Frage gestellt, wie das wäre, wenn der Mann überleben würde – im Rollstuhl, ohne Beine und Arme. U-Bahn ist er die nächsten Tage nicht gefahren, eine Art Schüttelfrost plagte ihn, drei Tage hat er nichts essen können, drei Wochen fehlte er im Dienst. In dieser Zeit hat er viel mit Kollegen geredet, denen ebenfalls schon mal jemand vor den Wagen gesprungen ist. „Das ist es, was hilft, nicht irgendein Psychiater, der nichts von deinem Beruf versteht.“ Deswegen fände er es gut, wenn sich eine Selbsthilfegruppe gründen würde; daß die Fahrer sich noch stärker als bisher selbst helfen, sich selbst aus dem unendlich tiefen und schwarzen Tunnel der Seelenfinsternis ziehen können.

Auch für Werding stand nicht zur Debatte, daß er den Job an den Nagel hängt, sich versetzen läßt, wenigstens eine andere Strecke fährt. „Daran habe ich nie gedacht.“