Gefangene wollen nicht mehr raus

■ Nach tödlichem Schuß in den Rücken beim Ausgang, geht im Knast die Angst um

Der bei einem Fluchtversuch von einem Justizvollzugsbeamten erschossene Häftling wurde durch einen Schuß in den Rücken getötet. Dies ergab die gestrige Obduktion der Leiche. Der Beamte will nach eigenen Angaben „auf die Füße gefeuert“ haben. Der Häftling hatte sich nach einer Untersuchung im Rudolf-Virchow-Krankenhaus von seinen beiden Aufpassern losgerissen und war davongelaufen.

Jetzt geht in Deutschlands größtem Knast die Angst um. „Wir sind empört“, sagte ein Häftlingssprecher, „wir haben Schiß, daß jetzt eine falsche Bewegung, ein Tritt ausreicht und schon geht die Knarre los.“ Und weiter: „Die sind doch völlig nervös und überfordert, diese Beamten.“ Der Erschossene, der mit Handschellen gefesselt gewesen war, habe niemanden auf seiner Flucht ernsthaft gefährden können. Statt dessen habe der Justizbeamte die Allgemeinheit mit seinem Schuß in der U-Bahn-Station gefährdet.

Der Erschossene, der wegen Diebstahls seit vier Monaten in Tegel einsaß und Ende März entlassen werden sollte, befand sich auf „Ausführung“, weil er medizinisch behandelt werden mußte. Das Gesetz unterscheidet Ausführungen, begrenzte Ausgänge und Freigänge. Die Ausführungen finden immer in Begleitung statt. Sie werden bei Notwendigkeit gewährt — wie im vorliegenden Fall aus ärztlichen Gründen. In Berlin, wo 4.000 Menschen einsitzen, werden maximal zehn solcher Ausführungen am Tag gewährt.

Wie die Häftlinge dann transportiert werden, ob in gepanzerten Autos, im Taxi, zu Fuß oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, hinge vom „konkreten Einzelfall“ ab, sagte Justizsprecherin Uta Fölster. Konsequenzen aus dem Vorfall habe man bislang nicht gezogen. „Darüber wird erst nachgedacht, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind.“ Die Justizsprecherin kann sich an keinen ähnlichen Fall aus der Vegangenheit erinnern.

Die Staatsanwaltschaft hat bereits vorgestern die Ermittlungen wegen „Verdachts des Totschlags“ gegen den 57jährigen Justizvollzugsbeamten aufgenommen, der die beiden Schüsse abgab. Zum Stand der weiteren Ermittlungen wollte Fölster allerdings keine Angaben machen. Der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Rüdiger Reiff, war gestern nicht zu erreichen.

Wegen des schwebenden Verfahrens will man sich auch bei der Gewerkschaft ÖTV nicht äußern. Für den Häftlingssprecher steht jedenfalls schon fest, daß letztlich die Folgen wieder „wir, die Gefangenen, zu spüren bekommen“. So wie bei den Pannen um den Häftling H., der 1992 bei einem Freigang eine Bank ausraubte. Doch nicht bei den verantwortlichen Justizvollzugsbeamten habe man damals die Konsequenzen gezogen, sagte der Häftlingssprecher, „sondern einfach nur die Voraussetzungen für einen Freigang verschärft“. Christoph Oellers