Landratte auf Rennkutter

Eine stürmische Reise von Kopenhagen nach Wolgast mit Käpt'n Ben und dem Einmaster „Nobile“. Zwischen 500 Quadratmetern Segeltuch und Taugewirr wird jeder gebraucht  ■ Von Jürgen Lodemann

„Lebenlernen auf Segelschiffen“ hieß die Reederei. Lebenlernen? Mit 59 wird's wohl Zeit. Als „Törn“ war angeboten eine Fahrt von Kopenhagen nach Wolgast an der Peene, also bis kurz vor die polnische Grenze. „Eine Fahrt mit dem größten Einmaster dieses Planeten.“ Der Kapitän am Telefon versichert, das Schiff sei ein Unikum. Ein „Rennkutter“, sehr schnell, aber auch empfindlich. „38 Meter lang über alles. 36 Meter hoch.“ Der Mast eine massive Douglasie von der Insel Usedom. Im vorigen Jahrhundert seien solche Schiffe Schmugglerschiffe gewesen, zu schnell für die verfolgende Staatskontrolle, aber auch immer mal wieder, auf hoher See, bei Sturm, untergegangen. Die „Nobile“ sei ein korrekter Nachbau.

Steht ein Segellaie nicht ständig im Weg? Kleine Pause am anderen Ende des Drahtes. – Ein interessierter Laie wird sich anpassen. Zuschauen auf Dauer unmöglich. Mitmachen unumgänglich. 20 Leute an Bord. Regensichere Ausrüstung, Gummistiefel und Schlafsack. Schlafen und Verpflegung im Schiff. – Ab Windstärke 6 liegt die Lee-Kante im Wasser, Rettungswesten, ab dann Pflicht, seien reichlich vorhanden. Und die „Empfindlichkeit“ des schnellen Schiffs? Kapitän Ben (junge Stimme) zählt seine in diesem Jahr überstandenen Touren auf, darunter ein Rennen von Schottland nach Bremen, das er mit dem „Rennkutter“ um ein Haar gewonnen hätte.

Vom Bahnhof in Kopenhagen zum Pier 161/171, da liegt die abgetakelte „Nobile“. Der Kapitän organisiert gerade das sogenannte Klar-Schiff, die Reinigung vom vorausgegangenen Trip. Ben, 28, ein Brocken von Seemann, goldlockig, erklärt mir „seinen Dampfer“. Auch der Hauptquerbaum ist massive Douglasie, fast drei Tonnen schwer, 22 Meter lang, beim Wenden zum Glück so hoch, daß kein Kopf in Gefahr gerät. Bei jeder Wende 25 Einzelhandgriffe, in je unumstößlicher Folge, nach sieben Wenden hätte das bislang noch jeder kapiert, meint Ben.

„Nobile“ hat Radar, Echolot, Sprechfunk und einen Satellitennotsender. Von den fünf Segeln ist das größte 250 Quadratmeter groß. „Wenn das morgen, nach der Ausfahrt, gehißt wird, spätestens dann wird auch ein Laie ahnen, was Segeln ist“, erklärt der Käpt'n.

Eine erstaunlich gute erste Nacht in einer der beiden Großkojen zu je acht Betten. Kein langes Lauschen mehr auf die gluckernden Tiefen da drunten, kein verzagtes Rekapitulieren all der Unglücke, die in letzter Zeit in süddeutschen Zeitungen ausführlich beschrieben wurden. Der Typ „Nobile“ sei ein „Schmugglerschiff“ gewesen. „Piratenboot“. – Und wieso „Nobile“? – Nobile, der Polarforscher, hat's immer überlebt. Wurde uralt.

Am anderen Morgen Einkaufen, die neue Crew, die neuen Gesichter, Frauen wie Männer, die neuen Wörter. Anrede per Vornamen. Einkaufen für die „Backschaft“ (Küchendienst, „jeder kommt dran“). Pässe beim Käpt'n abgeben. Um 13 Uhr Leinen los, per Motor aus dem Hafen, an der berühmten Meerjungfrau vorbei, dann nach Süden, in den Sund, sonniges Wetter, leichte Brise. Ben beschließt, zu segeln. Zuvor eine Rede an die „Neuen“, er erklärt die Sicherheitsmaßnahmen. Ein schwäbischer Eberhard zeigt und benennt die Taue, die „Nägel“ (aus Holz), die Funktionen, Dutzende Begriffe fallen. Drei der fünf Segel werden gesetzt, auch das Großsegel, das mit den 250 Quadratmetern. Ben strahlt. Mehr Segel gibt es vorerst nicht. Sturm ist angesagt.

Fast 200 Tonnen wiegt dieser Segler für „zollfreie“, für „schnell verderbliche“ Waren. Fuhr früher im Schutz der Küsten, tauchte nach Wikingerweise in Buchten unter und hatte seine Unglücke bei großen Meeresüberquerungen.

Das wunderliche System der Taue, welch eine andere Welt für die Landratte. Wenn man sich den Sinn dieser Labyrinthe klarmacht, wird ahnbar, wie hier Generation auf Generation Systeme verbesserte, wie sich die Kunst entwickelte, aus dem Gegeneinander der Windkräfte und der Wasserkräfte das Beste zu machen: schnelle Fahrt, mit großen Lasten über das weite Meer. Parallelogramme der Zugkräfte, der Hebelarme. Segeln scheint wie ein Über-Seile-Gehen: Immer neue stabile Labilitäten finden. Und nutzen. Beim Wenden heißt es „fieren“ („Lose geben“, Tau loslassen), dann Tau einholen, den Baum holen, sechs oder mehr Leute an einem Strang im gemeinsamen Geschrei: „Hol weg! Hol weg!“ Plötzlich Bens Kommando: „Jürgen, das Bullenkalb an den Haken!“ Der schwäbische Eberhard erklärt's. Bullenkalb, so heißt ein sechsfacher Flaschenzug. Nur mit solchen „Taljen“ kann der tonnenschwere Baum samt seinem 250-qm-Segel gezogen werden.

Beim Fieren schlagen die frei gewordenen Vorsegel im Turm wild herum, auch die kleineren Holzblöcke (Flaschenzüge) rütteln und flattern. Den Kopf muß man sichern, Ben erklärt später, diese Klötze hätten inoffiziell die Namen „Nußknacker“ oder „Witwenmacher“. Ben, der sensible Bär, immer im Räuberzivil. In seinen Offiziersjahren auf dem größten Segler der Welt („Star Clipper“) war Uniform vorgeschrieben, in Weiß und Gold.

Im Geschaukel unter Deck der Versuch, die aufkommende Übelkeit zu bekämpfen.„Geh rauf an Deck, schau dir den Horizont an, mach dir klar, wie die Bewegungen gehen, wo oben und wo unten ist und links und rechts. Und atme dazu langsam und tief“, rät Eberhard. – Dank an den Schwaben: Von nun an wurde die Nobile- Tour zum Zauber aus einer anderen Welt.

Nachts ankern in der „Faxe- Bucht“, an der Südküste der dänischen Insel Seeland. Um 7 Uhr morgens trieb der Anker weg, die Wache hatte nichts bemerkt. Ben wurde wach, sprang an Deck und steuerte das Schiff mit dem 300-PS- Diesel von den Fischernetzen weg, auf die es munter zutrieb.

Wie aus dem Nichts entfalten sich wieder die 250 leuchtenden Quadratmeter, heute in der Sonne. Ist alles gehißt, sind's 500 Quadratmeter Segelfläche. Mit Spinnaker 900. Heute aber kommt Sturm, unruhige See. Der Querbaum hängt fast schon im Wasser, an seinem Ende schleift „Adenauer“ über die Wellen, so nennen sie hier die Schwarzrotgoldene, die Nationalflagge. Adenauer also ist bereits naß. Brecher steigen an der LuvSeite, wehen über Deck. Steuerbord „Moens Klit“, dänische Steilküste, kalkfarbene Abbrüche, wie an der Stubbenkammer von Rügen. Hinter Moens Klit, außerhalb der „Landdeckung“, packt der volle Weststurm das Schiff. Rettungswesten werden angelegt, mit Notstrippen, mit Licht und Trillerpfeife. Es gibt zwei Rettungsinseln an Bord, ein Beiboot mit Außenborder. Was ist im Fall von „Mann über Bord“? – „Dann auch alle Rettungsringe über Bord. Und wenden.“

Ben weiß, daß die Landratte Klimatologie studiert hat. In seiner Kapitänskajüte zeigt er, was das Fax als neueste Wetterkarte ausgespuckt hat. Das vorausgesagte Hoch bleibt bei Frankreich. Island und Schottland schicken Sturmtiefs. Die Lee-Seite liegt unterdessen ständig im Wasser. Die Dachfenster sind gegen die Brecher mit Eisenplatten gesichert, in der Kombüse ist alles Bewegliche festgezurrt worden.

Für die Nacht brauchten wir einen Hafen. Aber wo? Kap Arkona erscheint im Abendlicht. Zwei von der Crew stehen acht Meter vor dem Schiff im Wind, vorn auf dem Klüverbaum, sausen wie Kobolde auf und ab, wie im Fahrstuhl aus den Wellen in fünf oder mehr Meter Höhe hinauf und hinunter. Die Leute an Bord sind Schlosser, Landschaftsgärtner, Studienräte, Studenten, Hausfrauen, nur zwei sind Berufssegler. An Segellust läßt sich niemand übertreffen.

Im Dunkeln an der Kreideküste Rügens vorüber, gegen 22 Uhr kommt Saßnitz in Sicht. In der Schwärze und im Wellengetöse gilt es, die Hafeneinfahrt zu finden. Schließlich fliegt eine weiße, schreiende Wolke im Laternenlicht auf, Hunderte Möwen, die so spät kein Schiff mehr erwartet hatten.

Rasselnde Vibrationen, wenn vorm Hafen das tonnenschwere Schwert hochgeholt werden muß, jenes Gewicht unterm Rumpf, ohne das bei Sturm nicht zu fahren wäre. An jeder der beiden Kurbeln schwitzen drei Kerle. Mit rhythmischen Schreien drehen sie acht Tonnen hoch. Der Schiffskörper zittert, dröhnt metallen im Licht der Mastlaterne. So muß es auf einem Gepensterschiff zugehen.

Traumhaftes Schlafen in der Mannschaftskoje. Neues Auslaufen bei wildestem Wetter. „Hört denn keiner das Schlagen?“ schreit der Boß, „der Klüver flattert sich zu Tode, und was macht ihr? Wenn das nicht funktioniert, ist Requiem!“ Nur so, mit harten Kommandos, funktioniert's. Gleich drauf wieder Witze und Fachsimpeleien, Ben läßt den Laien ans Steuer, nicht ohne präzise Angabe, welcher Winkelgrad einzuhalten ist. Gemisch aus Platt und Englisch und Deftigkeiten. „Russenfett“. „Hundsfott“. „Niederholer“. „Preventer“. „Übern Nagel! Bist du wahnsinnig? Fieren (Seil lösen) nur übern Nagel! Sonst kannste deine Pfoten wegschmeißen!“ Ben, der sensible Bär.

Kurs nicht, wie geplant, Richtung Bornholm, sondern zum Greifswalder Bodden. Aktionen im Sturm. „All hands an Deck! Was? Der Michel pennt? Hol ihn rauf!“ Durchs Wellen- und Windgetöse zischt das Funkprogramm von Kurzwelle 16 („Rügenradio Lügenradio“) mit Warnungen in Englisch, mit Pegelangaben, mit Sturmvorhersagen.

Vor jeder Wende ziehen mehr als ein Dutzend aufgeregte, schreiende Leute an Tauen, Bens Stimme überschlägt sich. Segeln bei Sturm ist Nervensache und die „Nobile“ ein Fahrzeug, das alle Wachsamkeit fordert und vollen Einsatz. „Wer hier glaubte“, meint ein Yachtbesitzer, „schon mal gesegelt zu haben, muß umlernen.“

„Backschaft“, Kochen bei 30 Grad Küchenneigung, die Suppe muß auf drei Großtöpfe verteilt werden. Der Greifswalder Bodden ist aufgewühltes Flachwasser, nur von einer schmalen Fahrrinne durchquert. Auf vier Kilometern muß die schnelle „Nobile“ exakt zwischen je zwei dicht beieinander stehenden Bojen hindurch. Ben riskiert's, läßt die Segel stehen, zieht sie nur höher heran und rauscht mit fast elf Knoten durch die lange, enge Fahrrinne.

Dann ruhigere Fahrt nach Wieck, zum Hafenort vor Greifswald. Am Horizont im Südosten die Kulisse des Atomkraftwerks Lubminen. Im Südwesten als Gegenkulisse das, was man von den Seebildern des Caspar David Friedrich kennt, die Türme von Greifswald. Starker Südsturm treibt das Wasser aus dem Hafen von Wieck. Kaum ist die Nobile fest, liegt der Rumpf im Schlick. Folgt also ein Tag ohne Ausfahrt, mit Arbeiten am Schiff. Das Topsegel aus 35 Meter Höhe holen, bei solchen Stürmen kann das eh nicht gesetzt werden. Zu Fuß in die Hansestadt Greifswald, an einem Flüßchen entlang, Dauerregen. Sturm. Matsch. Baustellen. Backsteingotik. Hanseatische Treppengiebel.

Auch am nächsten Tag melden die Wetterdienste Orkan. Trotzdem Ausfahrt nach Norden, quer über den Bodden, Zuflucht im Hafen Lauterbach auf Rügen, südlich von Putbus. Als der Diesel ausgeschaltet wird, sind rings um den kleinen Hafen die Eichen im Herbssturm zu hören, bei Windstärke 10. Einen Tag später prophezeit Rügenradio West 8, in Böen 10. Am Mast ist über Nacht der Windsack geplatzt. Um halb sieben Leinen los. Quer über den Bodden, nur mit halbem Großsegel. 5 Grad Celsius und scharfer Wind. In der Ferne noch mal die Türme von Greifswald. Die Ostseewellen silberfarben. Einfahrt in die Peene, in eine wundersam üppige Auenlandschaft, verstellt bisweilen von Beton aus DDR- oder aus Nazizeiten (Peenemünde). Ein breiter, schöner Strom, aber mit nur schmaler Rinne fürs Schiff. Eine volle Stunde Fahrt bis Wolgast. Schwäne, Reiher, Kraniche, Möwen, Enten.

Schönes, altes Wolgast. Überm ollen Ort wie eine Glucke die bucklige Mittelalterkirche, als behüte sie die krummen, alten Speicherdächer. Daneben aber gibt's jetzt die neuen, grellen Wellblechwerkshallen, in Grün, Blau, Violett. Lebenlernen auf dem Segelschiff? Wer das nie probiert hat, verpaßt was. Zumindest die sagenhafte Begegnung mit den „Elementen“. Und die Erfahrung, daß jeder an Bord gebraucht wird. Auch ein Anfänger.

Auskunft: „Lebenlernen auf Segelschiffen e.V.“, Friedensallee 41, 22765 Hamburg. Tel.: 040-390 88 92, Fax 040-39055551