Argentiniens Parlament entmachtet sich

Mit außerordentlichen Befugnissen für 250 Tage will Präsident Menem das Haushaltsdefizit bekämpfen. Nun soll die Mehrwertsteuer auf neue Bereiche ausgeweitet werden  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Argentiniens Kongreß hat eine seiner wichtigsten Befugnisse, nämlich Steuern zu erheben, vorübergehend aus der Hand gegeben. Mit Hilfe von acht Stimmen aus Oppositionsparteien und unabhängigen Volksvertretern stattete die peronistische Mehrheit im Parlament Mittwoch nacht Präsident Carlos Menem und Wirtschaftsminister Domingo Cavallo mit außergewöhnlichen Vollmachten im Bereich Steuerpolitik und Verwaltung aus. Die sogenannte zweite Staatsreform sieht die Ausweitung der Mehrwertsteuer auf Transportleistungen und eine Schrumpfkur der öffentlichen Verwaltung vor.

Die auf 250 Tage beschränkten Machtbefugnisse ermöglichen es Präsident Menem, Staatsbetriebe zusammenzulegen oder aufzulösen und Beamte zu entlassen. Außerdem darf die 21prozentige Mehrwertsteuer in Zukunft auch im Transportsektor, ausgenommen den Busverkehr, erhoben werden. Der Vorschlag von Wirtschaftsminister Cavallo, die Mehrwertsteuer ebenfalls auf Konsumprodukte wie Wein, Bier oder Fruchtsäfte auszudehnen, wurde allerdings abgeschmettert.

„Die Wirtschaft wächst, doch die größte Steuerlast tragen die Einkommensschwachen“, beklagte sich José Manuel De la Sota, Senator der Regierungspartei PJ (Peronisten) aus der Provinz Cordoba. Trotz der Beschwerden über mangelnde Sozialpolitik und geringe Beteiligung an den Entscheidungen der Regierung stimmten die 123 peronistischen Abgeordneten für ihre zeitweilige Entmachtung. Die Abgeordneten der Oppositionsparteien „Frepaso“ und UCR verließen aus Protest das Plenum, schafften es aber nicht, das notwendige Quorum von 130 Abgeordneten zu vereiteln.

„Die Abstimmung sollte Präsident Menem mit außerordentlichen Machtbefugnissen ausstatten und gleichzeitig Wirtschaftsminister Cavallo an die Kette legen“, interpretiert Vicente Muleiro, Redakteur der argentinischen Zeitung Clarin die sogenannte zweite Staatsreform. Aus Angst vor Cavallos Reformeifer hätten die Abgeordneten darauf geachtet, daß der Wirtschaftsminister mit weiteren Steuererhöhungen den Konsum nicht noch mehr zurückfahre.

Bereits zu Beginn des Jahres mußte Cavallo seine Wachstumsprognosen öffentlich zurückschrauben. Nicht vier, sondern wahrscheinlich nur zwei Prozent werde die argentinische Wirtschaft in diesem Jahr wachsen. „Die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 21 Prozent im vergangenen Jahr war eine Bedingung des Weltwährungsfonds“, schreibt der Journalist Vivente Muleiro. Auch bei der zweiten Staatsreform habe der IWF ein Wörtchen mitgeredet.