Kunstwerke „Westward ho“

1945 wollten die Amerikaner ihre Kriegskosten mit Kunst aus deutschen Museen entschädigen. Captain Walter Farmer widersetzte sich und erhielt gestern das Bundesverdienstkreuz  ■ Aus Berlin Anita Kugler

In seinem langen Leben – und heute ist Walter Farmer aus Cincinnati, Ohio, 85 Jahre alt – waren die Monate von Juni 1945 bis März 1946 die aufregendsten. Damals hat der Captain der amerikanischen Besatzungsarmee, stationiert in Wiesbaden als Kunstoffizier, „Weltgeschichte“ gemacht, zumindest einen Moment lang. Dafür wurde er gestern, 50 Jahre danach, geehrt: In Bonn erhielt der Ex-GI von Außenminister Klaus Kinkel das Große Verdienstkreuz der Bundesregierung. Für seine Verdienste um die „Bewahrung deutschen kulturellen Erbes“ und für den Mut, der amerikanischen Regierung in Washington in die Suppe zu spucken.

Und dies hat er wirklich gründlich getan. Denn ohne Walter Farmers Zivilcourage müßte man vielleicht heute ins Metropolitan Museum of Modern Art in New York oder in die National Gallery nach Washington fahren, um die wertvollsten Gemälde des ehemaligen Kaiser-Friedrich-Museums (jetzt Gemäldegalerie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin) zu sehen. 202 Bilder, darunter 15 Rembrandts, 6 Rubens, 5 Botticellis, 3 Dürers, 3 Holbeins, überhaupt die Highlights des 15. bis 17. Jahrhunderts.

Denn diese 202 Bilder, ausdrücklich auf einer amerikanischen Wunschliste als besonders wertvoll klassifiziert, sollte Walter Farmer im November 1945 auf Befehl von General Eisenhower in Kisten verpacken und über Bremen nach Amerika verschiffen lassen. Offiziell, um sie in amerikanischen Nationalgalerien „kurzfristig“ sicherzustellen, in Wahrheit aber, um sie als Entschädigung für die amerikanischen Kriegskosten in Europa einzukassieren. Damaliger Schätzwert laut New York Times von 1946: 80 Millionen Dollar. Präsident Truman und General Lucius Clay waren 1945 genauso willig wie der Diktator Stalin und die heutige Museumsdirektorin des Puschkin-Museums in Moskau, Irina Antonowa, Kunstwerke aus unzweifelhaft deutschem Besitz völkerrechtswidrig als Reparation zu behalten. „Westward ho“ nannte sich diese Aktion, entlehnt aus der Wildwestsprache. In der Sowjetunion hieß der selbe Vorgang „Trophäenjagd“.

Aber vor dem amerikanischen Trophäensammeln stand der junge Walter Farmer, gelernter Innenarchitekt, attraktiv wie Gary Cooper und mit einer gehörigen Portion Quäkeranstand ausgestattet. Sein Job hieß 1945, in einem in Wiesbaden eingerichteten zentralen Kunstlager die Abertausenden, kurz vor Kriegsende von den Nazis in Bergwerken und anderswo versteckten Kunstobjekte zu sichern, die wahren Besitzer festzustellen und Nazibeutekunst in ihre Herkunftsländer wieder zurückzuführen. Zudem sollte er, als von der 12th US-Armee eingesetzter Direktor des Landesmuseums in Wiesbaden, eine große Ausstellung der sichergestellten und eindeutig deutschen Museen gehörenden Kunst organisieren. Als „Reeducation“, als Beweis, daß die Nazis Barbaren und die Befreier Demokraten sind. Am 10. Februar 1946, also fast genau vor 50 Jahren. Deshalb auch das Ehrendatum gestern in Bonn.

Die Ausstellung fand damals statt, allerdings ohne die 202 Bilder aus dem Kaiser-Friedrich-Museum. Die waren zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schon in der National Gallery in Washington, durch Deutschland transportiert in Rot-Kreuz-Wagen und mit einem Armeeschiff über den Atlantik. Denn der Beutekrimi hatte mehrere Kapitel.

Einen Tag nach dem Verschiffungsbefehl, am 7. November 1945, rief Walter Farmer alle europäischen US-Kunstoffiziere der „Monuments, Fine Arts and Archives branch of the army“ (MFA&A) nach Wiesbaden zusammen. Wenn der befohlene Abtransport schon nicht zu verhindern sei, argumentierte er, müsse man wenigstens dafür sorgen, daß die Gemälde wieder zurückkommen. Die Alliierten könnten nicht auf der einen Seite nazistische Kunsträuber vor Gericht stellen, auf der anderen Seite das „kulturelle Erbe einer Nation“ als Kriegstrophäe weggreifen. 24 der von Farmer zusammengeholten Kunstoffiziere unterschrieben das sogenannte „Wiesbadener Manifest“, ein einziger Aufruf, sich nicht genauso unehrenhaft zu verhalten wie die Deutschen. Dieses Manifest sorgte dafür, daß die detailliert vorbereitete „Entschädigungspolitik“ von Präsident Truman und General Clay nicht mehr durchsetzbar war. Die 202 Gemälde wurden 1948 zurück in das zentrale Kunstlager Wiesbaden gebracht und Mitte der fünfziger Jahre in die Gemäldegalerie nach Berlin-Dahlem. Dort wird sie Walter Farmer, der die Gemälde immer nur verpackt in Kisten gesehen hat, am Dienstag zum erstenmal bewundern.