Michael Gira spricht in der Markthalle rasende Entkörperlichungsprosa

Auf dem Cassetten-Cover prangte ein tropfendes Kreuz neben den Buchstaben S, W, A, N, S in steifer Stuffer-Schrift. Mitte der 80er Jahre müssen die Swans – das sagen diese Zeichen – musikalischer Knotenpunkt für ein abstraktes, existentialistisches Leiden gewesen sein, das stellvertretend für die ganz konkrete, jugendliche Hörer-Pein an Familie, Mittelmaß und anderem stand. Musikalisch galt die New Yorker Band als Erfinder des „Wall Of Sounds“, ein aus Noise-Gitarre, Drum-Patterns und Tape-Loops zusammengeschweißtes Klangbrett, laut, brachial und vorsprachlich.

Nach dreijähriger Pause meldete sich Michael Gira im letzten Jahr mit drei Projekten zurück. Neben dem Swans-Album The Great Annihilator entstand die Solo-Platte Drainland und die Prosa-Sammlung The Consumer, die in Henry Rollins 2.13.61-Verlag erschien. Hier, wo Rollins primär seine eigenen Reden verlegt, erblickte auch schon Nick Caves düsteres Epos King Ink das Licht der Öffentlichkeit.

The Consumer, aus der der mittlerweile 42jährige heute vortragen wird, versammelt Kurzgeschichten und Schlaglichter aus einer Welt, wo Fleisch und Verwesung, Gestank und Genitalien, Inbrunst und Inzucht regieren. Gleich in der ersten Geschichte beschreibt der Ich-Erzähler ausführlichen Sex mit seiner Schwester, die gerade aus dem Irrenhaus entlassen wurde, sich von rohem Fleisch ernährt, um in großen Schlucken sein Sperma zu schlucken. Mit dem fauligen Geruch des Hauses, der Lichtscheue der Protagonisten beschreibt Gira – in kurzen Sätzen, aber mit großem Wortschatz – Genzüberschreitungen, wie sie so zuletzt nur in dem französischen Spielfilm Der Zementgarten gewagt wurden.

Gleiches gilt auch für die anderen Geschichten, wobei sich ein großes Motiv von der frühen Prosa der Achtziger bis in sein heutiges Denken zieht. Seine Helden wollen buchstäblich aus ihrem Körper verschwinden, zerstückeln sich in sadomasochistischen Phantasien. Etwa in der Titelgeschichte: Hier wird in einer „Lebensphilosophie, die als Orgasmus oder als Tumor im Magen kam“, wahres Glück als „symbiotische Beziehung des Körpers zum Bett“ beschrieben, der vollständige Körperverlust im TV und schließlich am Computer-Interface proklamiert. Die Entgrenzung des Körpers geht soweit, daß Wänden, an denen Kakerlaken neben Spermagefäßen krabbeln, Venen wachsen.

Allein durch die nunmehr 15jährige Besessenheit gerinnt in Michael Giras Prosa, die im Klappentext von Nick Cave und Hubert Selby hochgelobt wird, alles Gestische zu einer radikalen Position, zum Auswringen der Seeleninnenwände.

Volker Marquardt

Heute, 21 Uhr, Markthalle