Die Kirchen als "Zauberlehrling"

■ Bringt die Arbeitslosigkeit die evangelische und katholische Kirche in Bewegung? Die enorme Beteiligung an einem Diskussionsaufruf für ein gemeinsames Kirchenwort verunsichert die Amtskirchen

Der traurige Nachkriegsrekord bei den Arbeitslosenzahlen bringt die Kirchen in eine paradoxe Situation: Immer mehr Menschen, die in ihrer sozialen Not von der Politik enttäuscht sind, richten ihre Hoffnungen jetzt auf die Kirchen. Diese, im übrigen selbst von wachsenden Finanznöten geplagt, sehen sich unvermittelt von ihrer Nabelschau abgelenkt und in die rauhe gesellschaftliche Wirklichkeit gestoßen, zu der neben den über vier Millionen Arbeitslosen auch eine Million Menschen gehören, die derzeit in Deutschland keine eigene Wohnung haben.

Am Wochenende wurde in Berlin von der evangelischen und katholischen Kirche Zwischenbilanz eines „Konsultationsprozesses“ über ein „gemeinsames Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ gezogen. Die Reaktion auf den Aufruf zur öffentlichen Debatte war für kirchliche Verhältnisse enorm. Es gab in den letzten fünfzehn Monaten bisher über 4.000 Veranstaltungen dazu und 1.700 Eingaben an die Kirchen auf rund 17.000 Seiten Papier (darunter auch Schüleraufsätze und seitenlange Gedichte), aus denen oft eine tiefe Verzweiflung Betroffener spricht, die Arbeitslosigkeit als „entsetzliches Verhängnis“ und als Krebsgeschwür dieser Gesellschaft bezeichnen und immer wieder die Frage stellen: „Warum kriegen wir die Probleme nicht in den Griff?“

Gehen im Westen Deutschlands die Meinungen über die Ursachen und mögliche „Patentrezepte“ auseinander, fühlen sich viele Menschen in Ostdeutschland, so wurde in Berlin deutlich, in dieser Situation gleich mehrfach im Stich gelassen. Neben der materiellen Unsicherheit wird häufig der Verlust einer gesellschaftlichen Mitte beklagt, von Instanzen, an die man sich halten und denen man sich anvertrauen kann. Die Kirchen springen hier ganz offensichtlich in eine Lücke.

Bittere Töne waren in Berlin aus dem Osten zu hören: „In den neuen Ländern macht sich ein Kapitalismus breit, wie er von den Kommunisten in ihrer Propaganda immer dargestellt worden ist.“ Oder: „Was ist eigentlich soziale Marktwirtschaft? Ich habe sie noch nicht erlebt.“ Deutliche Betroffenheit herrschte im Saal, als ein arbeitsloser Delegierter aus Leipzig forderte, „daß sich die Kirche einmischen muß“.

Aber auch bei Einsendungen aus anderen Teilen Deutschlands wurde immer wieder deutlich, daß die Kirchen mit ihrem Anstoß zum Massengespräch über gesellschaftlich brennende Fragen einem Zauberlehrling gleich eine Formel gefunden zu haben scheinen, die die Menschen – und nicht nur in den kirchlichen Reihen – veranlaßt hat, endlich jemand ihre Sorgen und Vorschläge zu unterbreiten.

Der EKD-Ratsvorsitzende Klaus Engelhardt hörte das zum Beispiel aus Gesprächen mit vielen Kommunalpolitikern heraus, die sich allein gelassen fühlen. Wie soll die Kirche das alles zu einem „kirchlichen Wort“ zu den anstehenden Fragen bündeln? Dieses soll bis zum Herbst vorliegen und dann einen Umfang von etwa 50 Seiten haben. „Es sind Prozesse ausgelöst worden, die für uns noch unüberschaubar sind“, meinte Bischof Josef Homeyer (Hildesheim).

Zum Beispiel im Verhältnis zur CDU. Es sei deutlich geworden, „wie weit sich die Partei mit dem C in ihrem Namen und die Kirchen geistig voneinander entfernt haben“, heißt es in einer Kirchenzeitung, die auf der Berliner Tagung auslag und die über das jüngste Zusammentreffen der Kirchenvertreter mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion berichtete: „Man war sich merkwürdig fremd geblieben.“ Wilfried Mommert (dpa)