■ Die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen stolpert von Krise zu Krise. Konzepte und Visionen sind Mangelware
: Jenseits einer Notgemeinschaft

„Man muß die Pflicht und die Verantwortung erkennen und so handeln, als ob eine Chance da wäre, sogar, wenn man selber sehr daran zweifelt.“ An diesen Worten des großen Philosophen und Streiters gegen die ungebremste Naturzerstörung, Hans Jonas, richtet sich so mancher bündnisgrüner Politiker in Düsseldorf in diesen Tagen auf. Die Verwirrung ist komplett. Hinter vorgehaltener Hand beklagen einige inzwischen schon eine „Tendenz zum Selbstbetrug“. Kleinigkeiten würden zum grünen Erfolg hochgeredet, während der SPD-Wirtschafts- und Verkehrsminister Wolfgang Clement in der rot-grünen Regierung eine „CDU- Autobahnpolitik“ durchsetze. Roland Appel, der zu den Linken zählende Fraktionssprecher, meint dagegen, Rot-Grün habe in Nordrhein-Westfalen „die politische Landschaft grundlegend verändert, auch wenn dies bisher nur in kleinen Schritten deutlich wird“.

Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Daß sieben von acht geplanten Müllverbrennungsanlagen im Lande abgeschaltet wurden, ist gewiß auch dem reduzierten Müllaufkommen geschuldet. Aber ohne die Grünen stünde die Verfeuerung weiter an erster Stelle, böten sich für eine alternative Müllpolitik kaum Chancen. Die massive Aufstockung der Fördermittel für regenerative Energien und für Wärmeschutzinvestitionen können die Grünen auch auf der Habenseite verbuchen, ebenso die Förderung von sozialen Betrieben oder ein Existenzgründungsprogramm für Frauen. Zu den kleinen Schritten nach vorn zählen eine Härtefallkommission für Ausländer, die von Abschiebung bedroht sind, die Reduzierung der Abschiebehaft und die Etablierung eines Migrationsreferates bei der Landesregierung. Fundamentale Veränderungen sehen gewiß anders aus, aber wichtige Akzentverschiebungen werden in der Asyl- und Ausländerpolitik sichtbar.

Von einer Reformpolitik, die für sich in Anspruch nehmen könnte, erfolgversprechende Lösungsansätze zur Zukunftsbewältigung aufzeigen zu können, ist die Koalition gleichwohl noch weit entfernt. Das liegt aber nicht in erster Linie am mangelnden Willen der SPD, wie es manche Linke in der grünen Fraktion jetzt wieder zu suggerieren versuchen, sondern an objektiven gesellschaftlichen und stofflichen Grenzen, denen mit linksgrünen Forderungskaskaden ebensowenig beizukommen ist wie mit dem Wiederaufwärmen vermeintlicher sozialdemokratischer Patentrezepte aus den fünfziger Jahren. Angesichts von gut sechs Millionen fehlenden Arbeitsplätzen muß die rot-grüne Koalition das einer Landesregierung Mögliche tun, um so viele Arbeitsplätze wie irgend denkbar zu schaffen – ohne sich dabei, wie bisher, an den natürlichen Lebensgrundlagen zu versündigen.

Ein illusionärer Ansatz? Gewichtige Kritiker des Industriesystems wie Rudolf Bahro halten ein solches Natur- und Wohlstandsversprechen für eine Chimäre. Dabei bezieht sich Bahros Kritik nicht nur auf die kapitalistische Variante des Industriesystems, sondern ebenso auf linke Alternativen, die – wie etwa das marxistische Wirtschaftskonzept – ganz auf materielle Expansion aufbauen. Mit den grünen „Putzarbeiten auf der Titanic“ hat Bahro nichts mehr im Sinn. Eine Umkehr der herrschenden Entwicklungslogik kann er sich nur noch als radikalen Bruch mit bestehenden Lebensgewohnheiten vorstellen. Etwa im Sinne seiner kommunitären Basisgruppen. Massenwirksam sind solche Visionen nicht. Realitätstauglich wohl auch nicht.

Aber Bahro hält allen politischen Akteuren den Spiegel vor – und da zeigt sich ein jämmerliches Bild. Sichtbar wird ein Grundübel des politischen Handelns: Parteipolitiker aller Couleur – von der PDS über die Grünen bis hin zur CSU – suchen dem Publikum immer noch weiszumachen, daß die Tore zum Paradies vor allem durch die fehlerhaften politischen Instrumente der jeweils anderen versperrt werden. Die Zwillingsschwester dieser gefährlichen Lüge ist der Selbstbetrug des Publikums, das diesem Politikmuster nur allzugern folgt.

An dieser Krankheit leidet auch die Düsseldorfer Koalition. Gefangen im Netz der Ansprüche von Verbandsvertretern, Bürgerinitiativen, Gewerkschaftern und Unternehmern droht jeder Erneuerungsversuch zu ersticken. Ob es um Subventionen, Steuern, Straßen, Flughäfen oder Bahntrassen geht, Hauptsache, der eigene Sprengel bleibt unangetastet.

In der rot-grünen Koalition kracht es gewaltig, weil Düsseldorfs Wirtschaftsminister Wolfgang Clement einige höchst umstrittene Verkehrsprojekte verfolgt. Die Grünen verweisen zwar zu Recht darauf, daß diese Projekte zum Teil im Widerspruch zum Koalitionsvertrag stehen. Ausweichen können sie der Diskussion in der Sache gleichwohl nicht, weil die Probleme gelöst werden wollen. Der Koalitionsvertrag ist keine Bibel. Das gilt für beide Seiten – und für alle Politikfelder. Auch für die Energiepolitik. Beispiel Steinkohlebergbau: Hier sorgte das Zusammenspiel von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften jahrzehntelang für eine Privilegierung einer einzelnen Branche. Allein das Land NRW gibt dafür pro Jahr bis zu 1,3 Milliarden Mark aus. Aus Rücksicht auf die Bergleute gelten diese Subventionen seit Jahren in der SPD als sakrosankt. Damit muß Schluß sein. Wer von den Grünen verlangt, sich aus der Gefangenschaft regionaler Interessengruppen zu lösen, der darf sich nicht davor drücken, der eigenen Klientel reinen Wein einzuschenken. Beide Partner sind gefordert, sich den Vermittlungsproblemen in ihrer Stammwählerschaft zu stellen.

Das geht gewiß nicht ohne Blessuren ab. Doch wer aus Furcht vor dem Stolpern lieber ganz auf Bewegung verzichtet, der sollte sich hüten, das Lied der Erneuerung anzustimmen. Auf breite Zustimmung für schmerzhafte Entscheidungen wird die Koalition aber nur dann stoßen, wenn neben dem pragmatischen Alltagsgeschäft deutlich wird, wohin die gemeinsamen Anstrengungen führen sollen. Von der Notgemeinschaft muß sich die Koalition zur Gestaltungskraft entwickeln. Über neue Wege – vieleicht sogar Visionen – dann öffentlich zu streiten gehört dazu. Zum Schaden der Koalition muß das nicht sein, wenn die Kontrahenten dabei erkennen lassen, daß es ihnen nicht um die Vorführung des Koalitionspartners und auch nicht um Einflußgewinne in der eigenen Partei geht, sondern um die Suche nach der besten Lösung. Wenn nach dem Streit dann überzeugend gehandelt wird, könnte Rot-Grün doch noch zum Hoffnungsträger werden – weit über Düsseldorf hinaus. Walter Jakobs