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Letzte Ausfahrt Sophia Antipolis?

Aufzeichnungen von Kritikern über Städte: Michael Mönningers Sammelband „Last Exit Downtown – Gefahr für die Stadt“ macht sich um die Lesbarkeit der unübersichtlichen Metropolen am Ende des Jahrtausends verdient  ■ Von Stephan Trüby

Das „Florenz des 21. Jahrhunderts“ liegt an der Autobahnausfahrt Antibes. Zwischen Nizza und Cannes, nur wenige Kilometer von der Côte d'Azur entfernt, ist seit 1969 der größte Technologiepark Europas entstanden. In einem 23 Quadratkilometer großen Landschaftsgarten arbeiten etwa 15.000 Menschen für 850 Firmen. Gewohnt wird dörflich, in pavillon- ähnlichen Ein- und Mehrfamilienhäusern, inmitten von Golfparcours und Naturschutzreservaten. Ein Club Méditerranée der Wissenschaft. Das „Florenz des 21. Jahrhunderts“, so sein Gründer Pierre Laffitte, heißt Sophia Antipolis.

Der Name ist Programm. Das Programm heißt Flucht aufs Land – womit die Einsicht nahegelegt werden soll, daß es sich ohne die Bauchbinden der Stadt entspannter forschen läßt. „Bislang hatte die industrielle Rationalisierung die lebende Arbeit verdrängt. Heute liegt der Rationalisierungsfortschritt eines Technologieparks in der Intensivierung der Arbeit, in der Ausschaltung jedes branchenfremden Störfaktors, in der sogenannten Synergie. Die südfranzösische Technopolis ist eine keimfreie Wunderwelt, ein clean room des Urbanen, ein Ökotopia der Weißkragenökonomie. Firmen in Sophia Antipolis schwärmen regelmäßig von Produktivitätssteigerungen“, schreibt Michael Mönninger, Herausgeber der Aufsatzsammlung „Last Exit Downtown – Gefahr für die Stadt“. Das Technologie-Arkadien am Mittelmeer, führt er weiter aus, sei der vorläufige Höhepunkt der Stadtauflösung. Die überlasteten alten Zentren fransten nicht mehr nur aus, sondern ließen ganze Stadtteile in Randlagen abwandern. Sie treiben dort, so der Kritiker, die soziale, funktionale und räumliche Segregation auf die Spitze.

Mönninger, der bis 1994 Redakteur der FAZ war (und heute für den Spiegel schreibt), hatte seinerzeit die Artikelserie „Zukunft der Stadt“ initiiert. Für das Buch nun wurden die publizierten Texte, die meist von Journalisten, aber auch von Architekten stammten, aktualisiert und um sechs weitere Stadtporträts ergänzt.

Das Niveau schwankt beträchtlich, und so mancher Beitrag, darunter Jörg von Uthmanns Betrachtung von New York, erinnert aufs eindringlichste daran, daß zuweilen Schreiben sowohl Sich-Ausdehnen als auch Sich-Dünnemachen heißt: Mit einem Verweis auf die „Mietenexplosion“ und einer Nennung der wichigsten Wolkenkratzer ist Stadtkritik jedenfalls nicht getan.

Doch die Qualität überwiegt. Martin Pawley etwa zeigt am Beispiel Londons, daß der traditionellen europäischen Stadt sowohl innen als auch außen Gefahren drohen: im ortlosen Weichbild der Peripherie und in den zunehmend zur Dienstleistung umgebauten Cities. In die Hülle des alten Londons, beschreibt der Architekt, sei ein neues, künstliches London als virtuelle Stadt implantiert worden, mit gigantischen Rechnern und Bürokomplexen hinter historisierenden Architekturmasken.

Man werde sich daran gewöhnen müssen, so Pawley, „daß das London der Information und technischen Intelligenz kein physischer Ort mehr ist, sondern ein universales Phänomen“. Städte, führt er weiter aus, würden heute nicht mehr als Orte, sondern eher als Identitäten verstanden; nicht mehr als faßbare Bezugspunkte, sondern nur noch als intellektuell determinierte Stadtbilder. Dietmar Steiner diagnostiziert für Wien Ähnliches, wenngleich er in einer schleichenden Modernisierung der Altstadt vor allem Chancen sieht: „Im Netzwerk der neuen interkommunalen Konkurrenz könnte Wien [...] einen neuen Typ der Stadt kreieren: das ,Großstadtmuseum‘, historisch und ordentlich, wo die ,Technik‘ der Großstadt sich [...] versteckt hinter der Bühne der Aufführung.“

1930 hat der Gründer der niederländischen Fluggesellschaft KLM, Albert Plesman – wohl unter dem Eindruck eines Flugerlebnisses über dem Mündungsdelta des Rheins – für die sich abzeichnende Agglomeration der Städte Rotterdam, Den Haag, Amsterdam und Utrecht den Begriff „Randstad“ geprägt. Auch Deutschland hat seine Randstad: das Ruhrgebiet. Diese größte deutsche Stadt antizipiert einen „neuen Typus postindustrieller Stadtlandschaften“ (Mönninger). Sie sei, schreibt Wolfgang Pehnt in seinem vorzüglichen Essay, als ein „urbanes Planetensystem ohne Zentralgestirn“ zu betrachten. Ihr Polyzentrismus stelle das förderale Prinzip der Bundesrepublik wie im Verkleinerungsmaßstab 1:100 dar. „Wie man umgeht mit Suburbanisierung und Strukturkrisen, mit Umweltbelastung und Landschaftszerstörung“, äußert Pehnt, „wo könnte, wo müßte man es lernen, wenn nicht hier?“

Mit der Internationalen Bauausstellung Emscherpark, die 1988 von der Düsseldorfer Landesregierung aus der Taufe gehoben wurde, sollen bis 1999 rund 3.000 Wohnungen und 320 Quadratkilometer Grün- und Freiflächen gesichert werden. Und mit dem Know-how aus der Rekultivierung verseuchter Grundstücke wolle die IBA eine Zukunftsbranche aufbauen: das Ruhrgebiet als Großlabor für internationale Recyclingtechniken.

„Keiner will hier leben, aber alle sind da“, hat einmal der Hongkonger Architekturprofessor Eric W. C. Lyle über seine Stadt gesagt. Hongkong hat stellenweise eine Bevölkerungsdichte von 35.000 Menschen pro Quadratkilometer – das Dreißigfache eines europäischen Ballungszentrums. In den typisierten „Harmony“-Wohntürmen der Neustädte kann jeder Bewohner und jede Bewohnerin über durchschnittlich acht Quadratmeter Wohnraum (in Deutschland 36 Quadratmeter) verfügen. Freilich reduziert die extreme Verdichtung die Pendlerzeiten. Und Mönninger sieht auch das „futuristische Kunststück des Stadtstaates“ darin, „mit der Liquidierung des Raumes tendenziell auch die Zeit aufzuheben. Die Zeiterfahrung in Hongkong ist die einer nahezu totalen Synchronizität der Ereignisse.“

Während allerdings Hongkong noch bisweilen eine „Ästhetik der Dichte“ zugeschrieben werden kann, scheint das indische Hyderabad seinen 4,3 Millionen EinwohnerInnen nicht mehr gewachsen zu sein. Der Aachener Architekturhistoriker Jan Pieper spricht von einer durch Überbevölkerung hervorgerufenen „Zerstörung der indischen Stadtkultur“, einer Kultur, die „unzweifelhaft eine der großartigsten Varianten des Themas Stadt in der Menschheitsgeschichte darstellt“.

Anders als in Europa stehe hier das historische Stadtzentrum nicht deshalb unter Druck, weil es kein Wohnstandort mehr sei, sondern umgekehrt, weil die im Zentrum wohnenden Verwandten als Brückenkopf für Neuankömmlinge herhalten müßten. Pieper kommt zu dem Schluß, daß für diese Metropole bereits jede Hilfe zu spät komme. Nur wenn erkannt werde, was bei dem Lehrstück Hyderabad auf dem Spiel stehe, „hätten die kleineren und mittleren Städte Indiens, bei denen Wachstum und Auflösung gerade erst einsetzen, vielleicht noch eine Chance.“

„Last Exit Downtown“ macht sich um die Lesbarkeit der Stadt verdient. Das Buch vermag die Startschwierigkeiten von Ost- Städten wie Moskau und Warschau zu schildern und zeigt etwa am Beispiel von Los Angeles den Anachronismus des Flaneurs. Es läßt eine „Übergangsperiode“ (Mönninger) Revue passieren, die veranschaulicht, daß die alten Formen eines wertkonservativen Städtebaus zwar entleert, die neuen aber noch nicht gefunden sind.

Der Herausgeber überrascht schließlich mit einer Prognose, die „Kommunen“ eine wachsende politische Rolle zutraut, einer Einschätzung mithin, daß Stadtregionen die richtigen Orte seien, „global zu denken und lokal zu handeln“ (Mönninger): „Wenn Los Angeles von 2007 an alle Benzinmotoren verbietet“, sei zum Erhalt der Lebensgrundlagen viel beigetragen. Der praktische Handlungsspielraum einiger Bürgermeister und Stadträte sei dabei größer als jener internationaler Umweltkommissionen. „Mit diesem neuen Selbstverständnis“, vermutet Mönninger, „könnten sich die Städte ihrer [...] weltweiten Nivellierung erwehren.“

„Last Exit Downtown – Gefahr für die Stadt“. Herausgegeben von Michael Mönninger, Birkhäuser Verlag, 168 Seiten mit 22 Schwarzweiß-Abbildungen, 59,80 DM

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